Die WM in Katar: Boykott oder nicht?

Die WM in Katar: Boykott oder nicht?

Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Christopher Meltzer

Von  Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Am Sonntag startet die WM in Katar und die Boykottaufrufe wurden in den letzten Wochen immer lauter. Wir haben mit Christopher Meltzer gesprochen, der trotz allem vor Ort sein wird, um zu berichten.

Christopher Meltzer ist Journalist, arbeitet seit Juni 2020 in der Sportredaktion der F.A.Z. und ist seit September 2020 Sportkorrespondent in München. Im Interview mit egoFM Gloria hat er über Katar und die WM-Vergabe gesprochen und erklärt, warum er als Journalist trotz allem vor Ort sein wird.
  • Christopher Meltzer über die WM in Katar
    Das komplette Interview zum Anhören


Mit jedem Tag wird die Kritik an der WM lauter

Am Sonntag startet die WM in Katar und die Kritik am Gastgeberland hat in den letzten Wochen noch einmal enorm zugenommen. Zum einen wegen der Menschenrechtssituation, zum anderen aber auch wegen der Absurdität eines Sportturniers mitten in der Wüste. Christopher Meltzer fährt deswegen natürlich mit mehr als gemischten Gefühlen nach Katar, erzählt er. Er wird aber eben auch nicht als Fan, sondern als Journalist vor Ort sein. 

Vor ein paar Jahren war er schon einmal in Katar, damals, um über ein Motorradrennen zu berichten.

Vorab bekam er den Tipp, Taxi zu fahren, um mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Christopher Meltzer hat sich damals auf dem Weg zur Rennstrecke mit einem jungen Taxifahrer aus Kenia unterhalten, der ähnliche Dinge berichtete, wie auch die Arbeiter*innen, die für den Bau der WM-Stadien nach Katar gekommen sind. Der junge Taxifahrer hat in seiner Heimat keine Arbeit gefunden und den Job in Katar angenommen, um seine Familie zu ernähren. Dafür hat er einer Agentur viel Geld gezahlt.

"Er erzählt, er isst, er trinkt, er arbeitet und er schläft. Und das eben Tag für Tag für Tag. [...] Ist das der Sinn des Lebens, fragt er mich. Und ich konnte natürlich nichts entgegnen." - Christopher Meltzer 

Bei der Einreise wurde ihm dann sein Pass abgenommen, weswegen er das Land nicht einfach verlassen konnte, erzählte der Taxifahrer weiter. 

Die Arbeitsbedingungen vor Ort sind katastrophal.

Das Gleiche wie der Taxifahrer berichten unter anderem auch die ausländischen WM-Arbeiter*innen - sie sollen wie Sklaven behandelt werden, Katar nicht verlassen und den Job nicht wechseln dürfen und teils nicht mal ihren Lohn bekommen. Nach Angaben von Amnesty International sind zwischen 2010 und 2019 mehr als 15.000 ausländische Menschen in Katar gestorben. Aber auch aufgrund der Unterdrückung politischer und religiöser Minderheiten, der vorherrschenden Frauenfeindlichkeit und der Diskriminierung und Verfolgung von queerer Menschen wird das Land Katar und die WM-Vergabe von Anfang an von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Neue Einblicke hat auch nochmal die ZDF Dokumentation "Geheimsache Katar" geliefert:

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Und auch mit Blick auf die Klimakatastrophe ist die WM in Katar scharf in der Kritik. Die Stadien müssen beispielsweise dauerhaft gekühlt werden, damit Fußballspiele überhaupt möglich sind und der Strom in Katar stammt aktuell fast ausschließlich aus fossiler Energie.


Nicht nur aufgrund der WM steht Katar immer wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit, auch als Gaslieferant wird der kleine Staat global immer wichtiger. Mehr dazu erfährst du hier im egoFM Reflexikon.


Um Vergabeprozesse in Zukunft zu verbessern, könnte es hilfreich sein, Abstimmungen noch transparenter zu gestalten und strengere Kriterien aufzustellen.

Wie effektiv solche Maßnahmen allerdings in der Realität wirklich sind, ist fraglich. Denn einige Kriterien gibt es ja bereits: Ein Gastgeberland einer Männerfußball-Weltmeisterschaft muss beispielsweise auch eine Frauen-Nationalmannschaft haben.

"Aber diese Frauen-Nationalmannschaft [von Katar], die wurde 2009 - also ein Jahr vor der Vergabe - gegründet, hat dann ein offizielles Spiel gegen Bahrain gemacht und ja, viel mehr hat man dann danach auch nicht mehr von ihr gehört und gesehen. Und ich glaube mittlerweile wird sie nicht mal mehr in der FIFA Weltrangliste geführt. Also da sieht man quasi wie solche Vorgaben, in Anführungszeichen, umgesetzt werden - oder eben nicht umgesetzt werden." - Christopher Meltzer 

Aber wie politisch ist Fußball überhaupt?

Der FIFA Präsident Gianni Infantino hat in einem Brief an die Teilnehmenden darum gebeten, den Fußball während der WM in Katar nicht zu politisieren. Christopher Meltzer hat dazu eine klare Meinung:

"Das ist eine der größten Lügen des Sports - dass der Sport unpolitisch sei. Das sagen alle großen Verbände, wenn es ihnen halt gerade passt. [...] Das hat noch nie gestimmt und das stimmt auch heute nicht." - Christopher Meltzer 

Einerseits heißt es also oft, Fußball habe mit Politik nichts zu tun, andererseits berufen sich Verbände und Fans immer wieder darauf, dass eine WM und die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit ja auch zu positiven politischen Veränderungen im Austragungsland führen würde. Tatsächlich gab es in Katar erste Verbesserungen des Arbeitssystems, das müsse man schon positiv festhalten, so Meltzer - aber auch hier stellt sich natürlich die Frage, wie konsequent und nachhaltig diese sind, merkt der Journalist an. Außerdem betont er in Bezug auf die Veränderungen im Arbeitssystem:

"Da würde ich jetzt auch nicht sagen, das liegt nur am Fußball und das sollten sich auch nicht die FIFA oder andere Fußballvereine, die von Katar gesponsert werden, auf die Fahne schreiben dürfen." - Christopher Meltzer 

Am Ende bleibt vor allem eine Frage: Boykott oder nicht?

Christopher Meltzer ist der Meinung, dass jede*r für sich selbst entscheiden muss, ob er*sie die WM boykottiert oder nicht. Aus beruflicher Sicht betont er aber wie wichtig es ist, als Journalist Einfluss darauf zu nehmen, welches Bild aus Katar gesendet wird.

"Ich bilde mir zumindest ein, dass wir Journalist*innen da vielleicht schon in gewisser Weise auch ein Korrektiv sein können, dass man die Bilder, die von da in die ganze Welt gestrahlt werden, dass man die nicht komplett der FIFA und Katar überlässt. [...] Dass man da quasi die Deutungshoheit und einfach auch die Bildhoheit nicht nur denen überlässt, die kein Interesse daran haben, dass man eben auch die Seiten zeigt, die sie vielleicht nicht zeigen wollen." -  Christopher Meltzer

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