Türkei - Zwischen Inflation und Menschenrechtsverletzung?

Türkei - Zwischen Inflation und Menschenrechtsverletzung?

Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Erkan Pehlivan

Von  Gloria Grünwald (Interview) | Sabrina Luttenberger (Artikel)
Wie geht es der Türkei sechs Jahre nach dem Putschversuch und muss Präsident Erdoğan bei der kommenden Wahl um seine Position fürchten?

Erkan Pehlivan ist Journalist, Türkei-Experte und berichtet für deutsche Medien über die Türkei. Er arbeitet für das Politik-Ressort und schreibt zum Beispiel für die Frankfurter Rundschau über Menschenrechte, islamische Organisationen und die Auswirkungen der türkischen Politik auf Deutschland und die EU sowie die Machenschaften des türkischen Geheimdienstes MIT im Ausland.

Im Interview mit egoFM Gloria hat er über die Lage in der Türkei sechs Jahre nach dem Putschversuch gesprochen und erklärt, wie es dort um die Pressefreiheit steht.

  • Erkan Pehlivan über die Situation in der Türkei
    Das komplette Interview aus egoFM Reflex

Was hat sich seit dem Putschversuch getan?

Sechs Jahre ist es her seit dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016. Damals versuchten Teile des türkischen Militärs, die Regierung Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und dem Kabinett Yıldırım zu stürzen. Einige wünschten sich damals, dass die Regierung Erdoğans zu Ende geht, andere gingen an diesem Abend auf die Straße, um für ihren Präsidenten einzustehen und den Putsch aufzuhalten. Für diese Menschen hat Präsident Erdoğan den 15. Juli als Gedenktag ausgerufen.

Die Folgen dieser Nacht sind bis heute spürbar, sagt Journalist und Türkei-Experte Erkan Pehlivan.

Seitdem sei eigentlich alles schlimmer geworden. Im Anschluss wurden zehntausende Polizisten, ein Viertel aller Staatsanwält*innen und Richter*innen entlassen, ebenso praktisch alle pro-westlichen Generäle und Offizier*innen. Manche davon wurden auch ins Gefängnis gesteckt. Es sei nichts positiv verändert worden, sagt Erkan, "gar nichts."

Verbindung zwischen der türkischen Außen- und Innenpolitik

Erdoğan fällt auf der internationalen Bühne immer wieder auf, zuletzt bei der Frage, Schweden und Finnland in die NATO aufzunehmen. Erst hatte er gedroht, die Entscheidung zu blockieren, dann willigte er doch ein, jetzt sorgt er mit weiteren Drohgebärden für Unmut. Was innenpolitisch passiert, bekommen wir oft nur selten oder am Rande mit. Man könne die türkische Außen- aber nicht von der türkischen Innenpolitik getrennt betrachten, meint Erkan. Alles, was Erdoğan außenpolitisch sagt, diene auch der Innenpolitik.
"Nächstes Jahr finden Wahlen in der Türkei statt. Und so kann er seinen Wählern und seinen Anhängern zeigen, dass er der starke Mann ist." – Erkan Pehlivan

Tanz auf zwei Hochzeiten

Auch im Krieg in Ukraine steht die Türkei irgendwie zwischen den Stühlen: Einerseits verurteilt sie als NATO-Mitglied den Krieg Russlands und liefert Ukraine Waffen, gleichzeitig unterhält Erdoğan aber auch enge Kontakte zu Putin und nimmt an den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht teil. Auf welcher Seite die Türkei nun stehe, sei sehr schwierig zu sagen, erzählt Erkan. Die Türkei brauche den Westen, denn ohne ihn würde dort nichts funktionieren. Andererseits sei das Land aber auch auf Energieimporte aus Russland angewiesen.
"Die komplette Wirtschaft ist vom Westen abhängig. Die Türkei hat momentan ganz schlimme wirtschaftliche Probleme, in der Türkei hat man gerade eine offizielle Inflation von 78 Prozent, unabhängige Wirtschaftsexperten gehen sogar von 170 Prozent und mehr aus. Das heißt, auf der einen Seite zeigt sich natürlich die Türkei pro-Westlich, auf der anderen Seite aber versucht es mit Russland weiterhin Geschäfte zu machen. […] Das heißt, die Türkei tanzt auf zwei Hochzeiten." – Erkan Pehlivan

Geduld der Türk*innen?

Die hohe Inflation spüren Türk*innen natürlich besonders stark. Was es braucht, bis der Geduldsfaden reißt, weiß keiner so richtig, vermutet Erkan. Trotzdem hat er das Gefühl, je schlechter es den Menschen geht, desto mehr trauen sie sich, zu sprechen. Auch wenn es im Land keinen unabhängigen Journalismus mehr gibt und die Pressefreiheit immer weiter eingeschränkt wird (viele Journalist*innen wurden auch inhaftiert), gehen einige Menschen mit einfachen Kameras auf die Straße und befragen Menschen oder melden sich auf Twitter. Allerdings hätte er sich gewünscht, dass sie schon früher den Mund aufgemacht hätten, nämlich dann, als zehntausende Menschen aus politischen Gründen inhaftiert wurden.



Erdoğans Chancen bei den kommenden Wahlen

Nächstes Jahr stehen in der Türkei Wahlen an. Die hohe Inflation und die wirtschaftlich angespannte Lage führen zu einer wachsenden Unzufriedenheit in der türkischen Bevölkerung. Dass Erdğan deshalb abgewählt werden könnte, glaubt Erkan nicht. Schließlich habe der Präsident dafür gesorgt, dass die Opposition so gut wie mundtot ist. Er wird vermutlich alles tun, um an der Macht zu bleiben.
"Erdoğan [kann] es sich nicht leisten, die Wahlen zu verlieren. Auf ihn warten Gerichtsprozesse und das nicht nur wegen Korruption, [sondern auch] wegen Menschenrechtsverletzungen, möglichen Kriegsverbrechen in Syrien […] und Libyen, in denen er mit involviert ist." – Erkan Pehlivan
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Bild: Erkan Pehlivan

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