Unreal Unearth

Unreal Unearth

Von der Gospelseele seines großen Durchbruchs „Take Me To Church“ aus dem Jahr 2013 bis zu den von T. S. Eliot inspirierten Visionen vom 2019er-Album „Wasteland, Baby!“ durchquerte Andrew Hozier-Byrne Literatur, Religion und die klassische Bildsprache, um seinen eigenen musikalischen Kurs zu bestimmen. Für das dritte Hozier-Album „Unreal Unearth“ ist er diesem Impuls weiter gefolgt als je zuvor. Während der Pandemie holte Hozier einige Bücher nach, die schon lange auf seinem Lesestapel lagen – darunter Dante Alighieris „Inferno“. Nicht die leichteste Lektüre, aber eine Zeile hat bei ihm einen Nerv getroffen. „Es gibt eine Passage in Dantes ‚Inferno‘, in der er beschreibt, was sich über der Tür zur Hölle befindet. Die dritte Zeile lautet: ‚Durch mich geht es zu den verlorenen Menschen‘“, erzählt der Ire Apple Music. „Dieser Satz hat mich einfach angesprochen. Es fühlte sich an wie die Welt, in der wir uns befanden. In den Nachrichten gab es nur Zahlen von Todesfällen, Zahlen von Zwischenfällen. Es war ein surrealer Moment.“ Ihm wurde klar, dass das Format und die Themen von Dantes Epos aus dem 14. Jahrhundert, in dem der Dichter durch die neun Kreise der Hölle hinabsteigt, das perfekte Prisma sein könnten, um sowohl über die unwirkliche Erfahrung der Pandemie als auch über die Umwälzungen in seinem persönlichen Leben zu schreiben. „Das ist ein so reichhaltiger Schatz. Ich habe kein klassisches Studium absolviert und bin kein Akademiker, aber für mich passieren all diese Mythen die ganze Zeit um uns herum“, sagt er. „Man kann viel mit ihnen spielen, sie neu interpretieren und sie auch auf den Kopf stellen.“ Das Ergebnis ist Hoziers bisher ambitioniertestes und emotional stärkstes Album. Es ist eine bemerkenswerte Reise, die von pastoralem Folk über schwebende Epen bis hin zu Liedern reicht, die sich mit den Verwüstungen durch den Kolonialismus auseinandersetzen. Hier führt uns Hozier durch sein Album – Track für Track. „De Selby (Part 1)“ Ich wusste nicht, dass sich das Lied auf De Selby beziehen würde, bis es Gestalt annahm. Er ist eine Figur in einem Buch von Flann O’Brien mit dem Titel „Der dritte Polizist“ [1939 geschrieben, aber erst nach O’Briens Tod 1967 veröffentlicht]. Das Buch ist wie „Alice im Wunderland“ und ein Klassiker der surrealen irischen Erzählkunst. De Selby ist dieser verrückte Philosoph, der – und ich möchte das Ende nicht verraten – nicht weiß, dass er tot ist und im Jenseits lebt. Es fühlte sich wie eine passende Referenz für den Eröffnungstrack an, um über diese Dunkelheit nachzudenken, in die er eindringt, diesen unendlichen Raum. „De Selby (Part 2)“ Der zweite Teil ist an einem ganz anderen Ort zu Hause. Der Song war immer im Funk und Rock beheimatet, sogar in den frühen Demos. Der erste Teil endet in irischer Sprache, es heißt im Grunde: „Du kommst zu mir wie die Nacht. Obwohl du ein Wesen von großer Helligkeit bist, erlebe ich dich wie die Nacht.“ Es ist diese Idee von „Ich weiß nicht, wo du anfängst und wo ich aufhöre“, und der Song erforscht das textlich ein bisschen. „First Time“ Es fühlte sich wie eine schöne Stelle an, um aus der Schwere des vorherigen Tracks herauszukommen. Der Song repräsentiert den Schwebezustand. Diesen Kreislauf von Geburt und Tod, von einer Erfahrung, die uns erhebt und dann endet, und einem Gefühl, als würde die Welt über einem zusammenbrechen und sich dann wieder drehen. Alex Ryan, mein Kumpel, der auch mein Bassist ist, schickte mir eines Tages diese Basslinie und sie war wirklich farbenfroh, leicht und es ließ sich spielerisch damit arbeiten. Mir hat es wirklich Spaß gemacht, die Texte zu schreiben; sie sind nicht zu strukturiert. Es ist fast wie Sprechgesang und ich hatte mich vor diesem Album noch nicht wirklich damit beschäftigt, also wollte ich es ausprobieren. „Francesca“ Ich hatte ein Lied geschrieben, das ganz speziell auf Francesca zugeschnitten [aus dem Zweiten Kreis (Lust) in Dantes „Inferno“] und aus ihrer Perspektive geschrieben war. Ich habe sogar versucht, es in Terzinen zu schreiben, also in den ineinandergreifenden Triolen, in denen Dante schrieb. Aber da dachte ich: „Okay, davon muss ich wohl Abstand nehmen.“ Als das Lied Form annahm, begann es mit persönlichen Erfahrungen, und dann ließ ich diese Themen und einige der Bilder der Figur einfließen und schließlich die Mischung von beidem. Es ist ein Beispiel dafür, wie man dem Lied ein oberirdisches Leben gibt und mit dem Leben unter der Erde in Bezug auf die Figur in Resonanz tritt.“ „I, Carrion (Icarian)“ Es ist der Versuch, dieses Gefühl einzufangen, wenn man abhebt. Manchmal, wenn man sich in jemanden verliebt, wird man mit dieser neuen Leichtigkeit konfrontiert, die man noch nie zuvor erlebt hat und die auch erschreckend sein kann. Um es bestmöglich zu erleben, musst du einkalkulieren, dass alles zusammenbrechen könnte und es für dich okay wäre. Es geht darum, diese zwei Realitäten in beiden Händen zu halten und einfach mit der Bildsprache zu spielen. Es fühlte sich passend an, aus dem Hurrikan von „Francesca“ herauszukommen, in dem zwei Charaktere für immer in einem Wirbelsturm gefangen sind, und zu jemandem zu werden, der nur vom Wind getragen wird. „Eat Your Young“ Ich weiß nicht, wie beabsichtigt der Verweis auf Jonathan Swift hier war. Dieses Essay – Swifts satirisches Essay „Ein bescheidener Vorschlag“ aus dem Jahr 1729, in dem er vorschlägt, dass die irischen Armen ihre Kinder als Lebensmittel verkaufen – ist ein solches kulturelles Wahrzeichen, dass es einfach in der Luft liegt. Ich dachte mehr darüber nach, was ich gerade fühlte, im Zeitgeist des ständigen kurzfristigen Gewinns und einer langfristigen Blindheit. Das zunehmende prekäre Leben, Armut, Arbeitsplatzunsicherheit, Mietkrise, Immobilienkrise, Klimakrise und eine Generation, die all das erbt, sowie eine Generation, die davon profitiert hat. Die Texte sind direkt, aber die Stimme ist verspielt. Da ist dieser unzuverlässige Erzähler, der sich an der Sache erfreut – was beim Schreiben Spaß gemacht hat. „Damage Gets Done“ (feat. Brandi Carlile) Ich kenne Brandi Carlile seit Jahren, sie ist eine unglaubliche Künstlerin und ich habe das Glück, sie eine Freundin nennen zu können. Als dieser Song Gestalt annahm, wollte ich, dass es ein Duett wird. Es ist eine Art Ausreißer-Lied. Es ist nicht so einfach, diese Freude zu greifen, dieses Gefühl des Staunens in jungen Jahren, das dein Glück für einen Moment einfängt und dann wieder weg ist. Brandi hat eine dieser Stimmen, die kraftvoll genug ist, um wirklich das Gefühl einer klassischen, fast Powerballade zu erreichen. Ich kenne nur sehr wenige Künstler:innen, die solche Stimmen haben, die einfach auf Noten schwingen können, wie Brandi es tut, und sie mit dieser makellosen Energie und diesem Optimismus so perfekt treffen. „Who We Are“ Dieses Lied war wie ein Niesen. Sobald wir die Struktur hatten, jammten wir und ich fing einfach an, Melodien zu heulen, die sich zu diesem Zeitpunkt richtig anfühlten. Dann nahm ich sie weg und kam sehr schnell mit einem Song zurück. Etwas, das ich in das Album einbauen wollte, war diese Idee, nachts geboren zu werden, ein Beginn in völliger Dunkelheit. Es ist ein Song, der in der Kindheit, in dieser kalten und dunklen Stunde beginnt, in der man verloren ist, und sich dann seinen Weg durch die Dunkelheit bahnt. Es ist eine Idee, die ich schon seit Jahren in einen Song einbauen wollte, es aber nie getan habe. „Son of Nyx“ Eine echte Zusammenarbeit zwischen meinem Bassisten Alex Ryan, [Producer] Daniel Tannenbaum (aka Bekon) und mir. Alex hat mir ein Klavierstück geschickt, das er zu Hause in County Kerry aufgenommen hat. Was man am Anfang hört, ist die Sprachnotiz vom Handy, man kann die Uhr im Wohnzimmer seiner Familie ticken hören. Alex’ Vater heißt Nick, der Name des Liedes ist also ein Wortspiel. In der griechischen Fabel ist Nyx die Göttin der Nacht und einer ihrer Söhne soll Charon sein, der Bootsmann, der die Menschen in die Unterwelt bringt. All diese Stimmen, die man hört, sind die Refrains oder die Hooks der anderen Songs auf dem Album, verzerrt oder verstimmt, sodass man sie hört, wie sie sich in diesem Raum drehen. „All Things End“ „All Things End“ entstand aus einer persönlichen Situation heraus. Es gab eine Reihe von Songs, die den Platz der Ketzerei [Sechster Kreis] hätten einnehmen können. Im mittelalterlichen oder klassischen Sinne von Ketzerei nahm „All Things End“ diesen Platz ein. In den Momenten, in denen eine Beziehung zerbricht und einem entgleitet, war sie etwas, an das man wirklich geglaubt und in das man sein ganzes Vertrauen und seinen ganzen Glauben gesteckt hat. Wenn man sich dem Konzept nähert, dass das nicht passiert, fühlt es sich wie etwas Ketzerisches an. Es ist ein Lied über das Akzeptieren, über das Aufgeben deines Glaubens an etwas. „To Someone From A Warm Climate (Uiscefhuaraithe)“ Der vorherige Song handelt davon, dass Wege sich trennen. Ich nehme an, in diesem Zusammenhang reflektiert dieses Lied über den großen Verlust dieser Erfahrung und die nachträgliche Sinngebung der Liebe, die sehr oft anzutreffen ist. Wenn man in einem kalten Klima wie Irland aufgewachsen ist, lernt man, das Bett schnell aufzuwärmen, damit man nicht zu lange fröstelt. Es ist ein Lied, das ich für jemanden geschrieben habe, der aus einem warmen Klima kommt, und für die, die das noch nie erlebt haben. [Es geht um] die Bedeutung von etwas so Alltäglichem und doch so Bemerkenswertem – ein Bett zu erleben, das von jemand anderem gewärmt wurde, in einem Raum, den man nun mit jemand anderem teilt. Es ist ein Liebeslied. „Butchered Tongue“ Dieser Song handelt davon, was verloren geht, wenn Sprachen vom Erdboden verschwinden. Ich hatte das Glück, in den letzten zehn Jahren die Welt zu bereisen, Orte zu besuchen, die entweder indianische oder australische Namen hatten – einige der Orte, die ich in dem Lied erwähne – und die Leute zu fragen, was der Ortsname bedeutet. Ich war überrascht, dass einem das niemand sagen kann. Das Lied verweist auf einige der Handlungen, einige der Prozesse, die hinter dem Verlust der Kultur, dem Verlust der Sprache stehen. Es gibt ein Erbe schrecklicher Gewalt, aber wir müssen nicht nur das anerkennen, sondern auch die Großzügigkeit und Gastfreundschaft bezeugen, die ich an diesen Orten erlebe. „Anything But“ Dieses Lied handelt vom Kreis des Betrugs. Es hat Spaß gemacht, mit amerikanischen Producer:innen daran zu arbeiten. Sie dachten, es sei ein sehr süßes, fürsorgliches Liebeslied. Der Text in den Versen lautet wie folgt: „If I was a rip tide/ I wouldn’t take you out… If I were a stampede/ You wouldn’t get a kick“ („Wenn ich eine Flut wäre / würde ich dich nicht mitreißen… Wenn ich eine Stampede wäre / würdest du keinen Tritt bekommen“). Das Lied sagt auf dem Papier, dass es sich dabei um Freundlichkeiten handelt, aber die eigentliche Bedeutung ist ein Witz – was du sagst, ist, dass ich nichts mit dir zu tun haben will. In der dritten Strophe heißt es: „If I had death’s job, you would live forever“ („Wenn ich den Job des Todes hätte, würdest du ewig leben“). Damit passt es in den Kreis des Betrugs. Ich hatte meinen Spaß damit. „Abstract (Psychopomp)“ Als Kind habe ich gesehen, wie jemand auf eine befahrene Straße rannte, um ein Tier aufzuheben, das gerade von einem Auto angefahren worden war. In diesem Song wird diese Erinnerung auf abstrakte Weise betrachtet und man sieht all diese Zärtlichkeit und jemanden, der ein großes Risiko eingeht, um einem leidenden Lebewesen mit einer vergeblichen Geste Fürsorge zukommen zu lassen. Aber es geht auch um Akzeptanz und Loslassen. Der alternative Titel ist „Psychopomp“, ein griechischer Begriff für einen Geistführer – jemand, der jemanden von einem Teil des Lebens in den nächsten bringt. Charon, der Bootsmann, wäre ein Psychopomp, also schien es passend für eine Erinnerung daran, wie jemand ein totes Tier von der Straße aufhebt und es dann auf den Gehweg legt, wo es stirbt. „Unknown / Nth“ Das bin eigentlich nur ich und eine Gitarre – und genau das gefällt mir daran. Der Ansatz ist dem meines ersten Albums sehr ähnlich. Ich habe den Raum in diesem Lied wirklich genossen und diesen Raum dann zu etwas werden lassen, das viel Stille und viel Kälte in sich trägt. „First Light“ Es schien ein passender Schlusssong zu sein, in dem es darum geht, herauszukommen und zum ersten Mal das Sonnenlicht zu sehen. Dante spricht viel darüber, wie sehr er den Himmel vermisst, wie lange er die Sterne nicht mehr gesehen hat. Er hat keine Wolken gesehen, er hat die Sonne nicht gesehen. Ich wollte dieses Gefühl ausdrücken, lange Zeit in diesem sehr bedrückenden Raum zu sein und dann den Himmel zu sehen, als ob es das erste Mal wäre. Ich habe den Song mit diesem Gefühl im Hinterkopf geschrieben, dem Gefühl des sich Öffnens, des Weiterkommens und eines großen offenen Raums. Das Album brauchte so etwas. Es brauchte dieses abschließende tiefe Ausatmen, diese Erneuerung des Winds in den Segeln, um von dort aus weiterzugehen.

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