Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Denis Trubetskoy
Von Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Am 24. Februar 2022 hat Russland den Angriffskrieg auf komplett Ukraine ausgeweitet, das Land und die Gesellschaft hat sich seit dem komplett verändert. Wir haben nachgefragt, wie ein Alltag heute aussehen kann und wie der Krieg das Zusammenleben verändert hat.
Denis Trubetskoy wurde 1993 in Sewastopol auf der Krim geboren. Später hat er dort Journalistik an der Außenstelle der Lomonossow-Universität Moskau studiert und berichtet seit 2015 von Kyjiw für diverse deutschsprachige Medien über die ukrainische Politik und Gesellschaft. Im Interview mit egoFM Gloria hat er unter anderem darüber gesprochen, wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft verändert hat und mit welchen Gedanken die Ukrainer*innen in die Zukunft blicken.
Der 24. Februar markiert den Tag, an dem Russland gesamt Ukraine angegriffen hat
Im März 2014 annektierte Russland die Krim, im April 2014 begann der russische Angriffskrieg in Ostukraine. Der Angriffskrieg dauert also bereits seit neun Jahren an, hat aber vor einem Jahr ein komplett neues Ausmaß angenommen, als Russland am 24. Februar 2022 den Krieg auf das gesamte Land ausgeweitet hat. Einen geschichtlichen Abriss von 1991 bis 2022 kannst du dir hier nochmal anhören und eine Zusammenfassung, was im letzten Jahr passiert ist, findest du hier. Letztes Jahr standen wir außerdem mit der Ukrainerin Alla in Kontakt, in ihrer Kolumne #TagebücherAusDerUkraine hat sie ihre persönlichen Erlebnisse und Ansichten mit uns geteilt. Die Beiträge findest du hier.
Mehr Zusammenhalt durch den Krieg
Die Ukrainer*innen haben inzwischen kaum noch Angst - es kann schließlich nicht mehr viel schlimmer kommen, erzählt Denis. Einen atomaren Angriff hält er für nicht sonderlich wahrscheinlich, komplett ausschließen kann er es aber natürlich nicht. Allgemein ist die Grundstimmung mit größerem Blick auf die Zukunft aber relativ optimistisch und es herrscht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl im ganzen Land.
"Ansonsten ist es, glaube ich, eine Mischung aus kämpferisch und müde [...], aber in der Gesellschaft gibt es diesen sehr, sehr deutlichen Konsens, dass man unbedingt weiterkämpfen sollte. [...] Es gab selten Fälle, bei der die Ukraine wirklich einen derart klaren Konsens hatte, so gut wie in allen Ecken des Landes. Und das ist, glaube ich, das dominierende Gefühl im Moment." - Denis Trubetskoy
Auch der Besuch von Präsident Biden hat die Ukrainer*innen noch einmal ermutigt. Denis sagt aber auch deutlich, dass es vermutlich kaum einen Erwachsenen in Ukraine gibt, dem es im Moment psychisch wirklich gut geht.
"Das ist einem besser anzumerken als dem anderen, aber tief im Herzen haben alle riesige mentale Probleme." - Denis Trubetskoy
Und auch wenn es am Ende des Tages für alle einfach sehr, sehr schwierig ist abzuschalten, versuchen die Menschen trotzdem so gut es geht einfach weiterzumachen, erzählt Denis.
"Aber [man versucht] den Rest des normalen Lebens weiterzuleben, sich glaube ich so weit es geht gegenseitig zu unterstützen. Also man sieht, dass die persönlichen Kontakte zwischen den Menschen, dass die sich wirklich vertieft haben, so auf der Nachbarschaftsebene und das ist, glaube ich, ein weiterer Bereich, wo man einfach wirklich versucht, mit diesem Alltag umzugehen." - Denis Trubetskoy
Der erste Jahrestag spielt keine sonderlich große Rolle, schätzt Denis
"Der 24. Februar hat das Leben von allen Ukrainerinnen und Ukrainern sehr stark verändert und wird natürlich für immer in Erinnerung bleiben, das ist klar. Aber jetzt, wenn der Krieg wirklich weitergeht, gibt es keinen großen Unterschied zwischen dem 24. Februar und 25. Februar." - Denis Trubetskoy
Außerhalb von Ukraine ist in dieser Zeit natürlich ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten, dennoch ist Denis aber positiv überrascht von Deutschland:
"Ich hätte gedacht, dass das Interesse für die Ukraine in diesem Jahr deutlich kleiner wird mit der Zeit, ich hätte gedacht, dass die Solidarität mit der Ukraine in Deutschland deutlich kleiner wird und ich hätte gedacht, dass auch die Unterstützung für die Waffenlieferungen an die Ukraine mit der Zeit deutlich kleiner sein wird. Und all das ist jetzt nicht wirklich so eingetreten." - Denis Trubetskoy
Wir haben auch mit egoFM Hörerin Anastasiia gesprochen. Auch sie hat uns erzählt, wie sie das letzte Jahr erlebt hat, seit dem ihre Eltern im März 2022 aus Kyjiw zu ihr nach Regensburg geflohen sind. Emotional geht es ihnen allen mal besser und mal schlechter, aber der Krieg ist natürlich auch für sie hier in Deutschland jeden Tag präsent. Das erste, was Anastasiia am Morgen nach dem Aufstehen macht, ist die ukrainischen News checken, um zu schauen, was in der Nacht passiert ist. Die Woche vom 24. Februar wird für sie alle aber nochmal eine zusätzliche Herausforderung, erzählt sie.
"Ich merke diese Woche wird für alle nochmal anstrengender, das darf man natürlich auch nicht unterschätzen, dass der 24. kommt und wir alle wieder ein bisschen zurückgeworfen werden einfach in unseren Gedanken und Emotionen auch." - Anastasiia
Seit Februar 2022 sind laut Statistischem Bundesamt mehr als eine Million Menschen aus Ukraine nach Deutschland geflüchtet, die meisten von ihnen in den ersten drei Monaten.
Um schnelle Hilfe für die Menschen in Ukraine und für Geflüchtete, die hier ankamen, zur Verfügung stellen zu können und um einen Überblick über die unterschiedlichen Aktionen zu behalten, schlossen sich Ehrenamtliche, NGOs und Vereine (hauptsächlich aus Berlin) zur Allianz Ukrainischer Organisationen zusammen. Ihr Ziel ist es, humanitäre Hilfe für die Menschen in Ukraine zu leisten und Geflüchtete zu unterstützen, außerdem organisieren sie Demos und kommunizieren mit Politiker*innen. Andriy Ilin ist Anwalt und engagiert sich ehrenamtlich bei der Allianz Ukrainischer Organisationen und hat mit uns über seine Arbeit gesprochen. In den ersten Wochen nach dem 24. Februar 2022 war die Hilfsbereitschaft enorm und er findet kaum Worte dafür, wie dankbar er ist. Aber seit Ende Mai/Anfang Juni gingen die Spenden dann auch zurück.
"Wenn man in die Psychologie schaut, es ist die ganz normale Angewöhnungszeit. In drei Monaten gewöhnt man sich als Mensch an alles und es ist ganz normal, dass die Spendenbereitschaft zurückging, weil [...] die Bevölkerung Deutschlands hat sich einfach daran gewöhnt, dass es in der Ukraine Krieg gibt." - Andriy Ilin
Es gibt aber natürlich dennoch Menschen, die weiterhin helfen. Aktuell sind nach wie vor Geldspenden am sinnvollsten, aber auch Unterstützung bei Behörden und das Thema Unterkunftsvermittlung ist nach wie vor wichtig.
Wie kann das alles enden?
Denis Trubetskoy sagt, dass Russland einen langen Krieg plant und Putins letzte Rede vor allem ein Ziel hatte: den Angriffskrieg in der russischen Gesellschaft normalisieren.
"Also die ukrainische Gesellschaft hat schon realisiert, dass dieser Krieg weder in ein paar Wochen noch in ein paar Monaten zu Ende gehen wird und vermutlich in diesem Jahr wirklich nicht." - Denis Trubetskoy
Er erklärt, dass es für Ukraine ganz grundsätzlich darum geht, Russland so weit zurückzudrängen, wie es geht, denn jeder Quadratkilometer des besetzen ukrainischen Landes bedeutet menschliches Leid. Dafür muss Ukraine im Endeffekt militärisch so stark werden, dass sich ein neuer Angriff nicht lohnt. Das ist das Ziel, dass Ukraine und die ukrainische Gesellschaft verfolgt.
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