Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Robert Nagel
Von Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Eine Woche ist es her, dass der Supreme Court das Grundsatzurteil "Roe vs. Wade" gekippt hat. Welche Folgen das für Schwangere in den USA hat, aber auch was das für die sowieso schon tiefe Spaltung des Landes bedeutet, ordnet Robert Nagel ein.
Robert Nagel kommt ursprünglich aus Heidelberg und ist inzwischen Research Fellow am Institute for Women, Peace and Security der Georgetown University, Washington D.C.. Er forscht zu feministischer Politik, vor allem im Bereich internationale Konflikte, und hat im Interview mit egoFM Gloria darüber gesprochen, wie er die aktuelle Lage in den USA einschätzt.
Robert Nagel zu den Entwicklungen in den USA
Das komplette Interview aus egoFM Reflex
Felicia Hofner aus Cincinnati
Eine persönliche Einschätzung
Das Supreme Court-Urteil und seine Folgen
Fast 50 Jahre lang galt in den USA eine bundesweite Regelung für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche - am 24. Juni hat der Supreme Court das allerdings geändert und "Roe vs. Wade" gekippt. Was genau das bedeutet, haben wir dir hier im egoFM Reflexikon noch mal zusammengefasst.
Obwohl diese Entscheidung nach dem Leak eines entsprechenden Entwurfs Anfang Mai wenig überraschend kam, waren die Reaktion im Land extrem und große Teile der Bevölkerung sehr erschüttert und enttäuscht, erzählt Robert. Viele Menschen haben direkt spontan in Washington D.C. vor dem Supreme Court Building demonstriert, aber auch in unzähligen anderen Teilen des Landes sind die Menschen auf die Straße gegangen und tun das noch immer. Auch Felicia Hofner, die in Cincinnati lebt und mit der wir bereits hier über die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA gesprochen haben, ist erschüttert, erzählt aber auch, dass sie sich selbst als Deutsche, die ausgewandert ist, natürlich in einer sehr privilegierten Position befindet:
"Ich würde jetzt allgemein eigentlich eher sagen, dass ich mich da selbst in einer privilegierten Situation sehe, weil ich mich nicht ganz so mit diesem Land identifiziere, wie viele meiner Freunde. Also ich bin quasi nicht ganz so enttäuscht von meinem Vaterland. Ich bin natürlich trotzdem sehr enttäuscht, aber ich hab auch gleichzeitig eben die Möglichkeit, nach Deutschland zurückzugehen jederzeit. Und da sehe ich mich wirklich in einer sehr privilegierten Situation, weil ich da eben die Wahl habe, die natürlich die meisten Leute absolut nicht haben. Viele Leute können sich natürlich nicht mal leisten, in einen anderen Bundesstaat zu reisen." - Felicia Hofner
Durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs können die einzelnen Bundesstaaten nun selbst entscheiden, ob - und wenn ja unter welchen Umständen - sie Schwangerschaftsabbrüche erlauben oder verbieten. Diese Entscheidung ist allerdings extrem unpopulär in der Bevölkerung, sagt Robert:
"Ungefähr 85 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, dass Abtreibungen legal sein sollten unter bestimmten oder sogar allen Umständen. Das heißt, die Entscheidung ist nicht im Sinne der Bevölkerung und das denke ich, ist ganz wichtig festzuhalten." - Robert Nagel
Eine aktuelle Studie kam zu dem Ergebnis, dass 50 Prozent der USA dafür sind, Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen zu erlauben und 35 Prozent sogar dafür sind, dass dies unter allen Umständen gelten soll. Trotzdem haben bereits 13 Staaten im Vorfeld zu der Entscheidung des Supreme Courts Abtreibungsgesetze beschlossen, die jetzt automatisch in Kraft treten - sogenannte Trigger Laws. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass ungefähr die Hälfte der Bundesstaaten Abtreibungen komplett verbieten oder zumindest sehr stark einschränken werden.
Abtreibungsverbote treffen nicht alle gleich hart
Natürlich hat die Entscheidung weitreichende Folgen für alle Schwangere, je nach sozioökonomischem Status kommt es allerdings eben zu unterschieden. Ganz besonders betroffen werden Schwarze Frauen und Latinas sein, erklärt Robert, vor allem in Staaten, die sowieso schon schwache soziale Sicherheitsnetzwerke haben, wie Texas, Oklahoma, Arkansas, Lousiana, Mississippi und Alabama. Das Institute for Women, Peace and Security der Georgetown University hat letztes Jahr verglichen, in welchen Bundesstaaten es Frauen in den USA am schlechtesten geht. Und eben diese genannten Bundesstaaten, in denen Abtreibungen in Zukunft auch verboten sein werden, sind bereits jetzt schon diejenigen, in denen es Frauen am schlechtesten geht. Das wird sich nun verschlimmern.
"[Diese Staaten haben] eine Muttersterblichkeitsrate von 72 für alle 100.000 Lebendgeburten. Im internationalen Vergleich: Das ist schlechter als zum Beispiel Libyen oder Brasilien oder andere Länder, wo wir normalerweise sagen würden, die USA ist [im Vergleich] ein hoch entwickeltes Land." - Robert Nagel
Er sagt deswegen ganz klar:
"Es geht hier nicht um die Gesundheit der Frauen, es geht hier nicht um die Gesundheit der Babys, es geht hier um Macht." - Robert Nagel
Immer wieder wird Frauen in den USA nun auch empfohlen, Zyklus-Apps zu löschen, da diese Daten für die Strafverfolgung genutzt werden könnten. Eine Kollegin von Robert geht sogar noch einen Schritt weiter: Sie sagt, dass Frauen nicht nur die Apps löschen, sondern auch die Hersteller anschreiben und die Datenlöschung fordern sollten. Robert hält es zwar nicht für sehr wahrscheinlich, dass diese Daten tatsächlich zur Strafverfolgung genutzt werden, hält es aber nicht für unmöglich.
Die gesellschaftliche Spaltung in den USA
Die Bevölkerung in den USA gilt schon lange als gespalten und in zwei Lager geteilt. Die Abtreibungsdebatte hält Robert allerdings nicht für die größte Streitfrage und sagt, dass es definitiv andere soziale und politische Fragen gibt, die wesentlich mehr spalten - immerhin sind sich eben 85 Prozent der Bevölkerung eigentlich einig, dass Abtreibungen in manchen oder sogar in allen Fällen legal sein sollten.
Die Rolle von Donald Trump
Immer wieder heißt es, Donald Trump habe die Weichen dafür gestellt, dass "Roe vs. Wade" gekippt wurde und dass er außerdem nach wie vor die gesellschaftliche Spaltung der USA stark befeuert. Auch Robert sagt, dass Trumps Geist auf jeden Fall noch zu spüren ist und gibt zu bedenken, dass er außerdem Spitzenkandidat für die republikanische Nominierung der nächsten Präsidentschaftswahl ist.
"Das ist beängstigend, insbesondere im Hinblick auf die antidemokratische, faschistische Denkweise, die er demonstriert hat und weiterhin demonstriert. Auf der anderen Seite muss man auch sagen: Donald Trump ist nicht das ursprüngliche Problem, er ist ein Symptom des Problems, er ist ein Symptom der gesellschaftlichen Spaltung und der zunehmenden Polarisierung und der wirklichen Radikalisierung der Republikanischen Partei." - Robert Nagel
Selbst wenn Donald Trump in der nächsten Präsidentschaftswahl also wieder nicht gewinnen sollte, ist die Republikanische Partei dennoch eine Trump-Partei, sagt Robert. Und genau das besorgt ihn mit Blick auf die Demokratie in den USA verständlicherweise sehr, immerhin könnten nach dem Abtreibungsrecht jetzt auch noch weitere Bürger*innen-Rechte in Gefahr sein.
"Weil eben der Supreme Court und die republikanisch nominierten Richter und Richterinnen wirklich extrem sind und eine ideologische Politik durchführen - und zwar nicht durch Gesetze, die durch den Senat oder durch das [Weiße] Haus gehen, sondern wirklich von der Richterbank. So sollte Demokratie nicht funktionieren." - Robert Nagel
Unter Umständen will der Supreme Court in nächster Zeit auch weitere Grundsatzurteile noch mal genauer betrachten, die Rede ist beispielsweise von Gesetzen zur gleichgeschlechtlichen Ehe oder dem Thema Verhütung. Aber auch wenn die USA in einigen Themen in der Vergangenheit oft eine Art Vorreiterrolle hatte, glaubt Robert nicht, dass die aktuellen Entwicklungen direkte Auswirkungen auf andere Teile der Welt haben werden und hält den Rückschritt der USA in Bezug auf Abtreibungsrecht zumindest nicht für einen weltweiten Trend.
"Insbesondere was Abtreibungen weltweit angeht, haben wir in den letzten Jahren eigentlich Erfolge gehabt. Zum Beispiel Argentinien, das ein streng katholisches Land ist, hat Abtreibungen legalisiert. Und ich denke, das ist auch ein Beispiel von dem wir hier in den USA lernen können, was die Kraft der Massenmobilisation und der Massendemonstrationen angeht. Dort war es wirklich so, dass insbesondere Frauenorganisationen wirklich [mit] Massendemonstrationen zu einem politischen Wandel geführt haben." - Robert Nagel
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