Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Mycle Schneider
Von Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Im Rahmen der EU Taxonomie-Verordnung plant die Europäische Kommission, Investitionen in Atomkraft als nachhaltig einzustufen.
Mycle Schneider ist unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik und Mitinitiator des World Nuclear Industry Status Reports, der den Zustand der Atomindustrie weltweit seit mehr als zehn Jahren genau untersucht und bewertet. Im Gespräch mit Gloria hat er uns erklärt, warum er in Atomenergie nicht die Lösung für die Klimakrise sieht.
Die EU Taxonomie-Verordnung
In Deutschland ist der Atomausstieg beschlossen und Ende des Jahres sollen die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen. Auf internationaler Ebene sieht das anders aus: Aktuell gibt es weltweit 33 Nationen mit aktiven Atomkraftwerken, dieser Strom liefert ungefähr zehn Prozent der gesamten kommerziellen Stromproduktion. Die Top drei Produzenten von Atomstrom sind die USA, China und an dritter Stelle Frankreich.
Mycle Schneider im Interview
Das komplette Gespräch zum Anhören
Dass Frankreich an dritter Stelle der Atomstromproduzenten steht zeigt deutlich, dass auch innerhalb der EU Uneinigkeit herrscht.
Die EU Kommission plant nun sogar, Atomkraft im Rahmen der Taxonomie-Verordnung als nachhaltig einzustufen. Die Taxonomie bestimmt Arten der Energiegewinnung, die uns dem Ziel der Klimaneutralität näherbringen und die deswegen finanziell gefördert werden sollen. Atomkraft soll auf dem Weg zum Nettonull eine sogenannte Brückentechnologie darstellen und deswegen als nachhaltig eingestuft werden. Die Ampel-Regierung beurteilt die Taxonomie-Verordnung sehr kritisch, genau wie Mycle Schneider:
"Eine der wesentlichen Ideen der Konzepte hinter der Nachhaltigkeit ist ja, dass die Aktivitäten von heute auf nachfolgende Generationen keine bleibenden nachteiligen Konsequenzen haben soll." - Mycle Schneider
Wenn eine Technologie als nachhaltig eingestuft werden soll genügt es also nicht, nur auf den CO2-Ausstoß von Atomkraftwerken zu schauen, obwohl der bei Atomkraftwerken tatsächlich verhältnismäßig sehr gering ist. Mehr dazu findest du auch hier. Es muss viel mehr darum gehen, einen Blick in die Zukunft zu werfen: Denn vor allem der Atommüll ist definitiv ein Problem, das an unzählige, nachfolgende Generationen weitergegeben wird und für das es immer noch keine Lösung gibt.
"Die Vorstellung, eine Technologie, die [radioaktiven] Müll produziert für die Ewigkeit als nachhaltig einzustufen, finde ich eigentlich schon sehr gewagt." - Mycle Schneider
Schneider ergänzt außerdem, dass es aktuell angesichts der Atommüllproblematik dringend notwendig wäre, sichere Zwischenlager zu finden. Für ihn ist vor allem der Weg hin zu einem sicheren Endlager entscheidend, nicht die Endlagersuche an sich. Aber es gibt noch einen weiteren Punkt, den Schneider im Zusammenhang mit der Taxonomie-Verordnung scharf kritisiert: Es soll nicht nur der Neubau, sondern auch die Laufzeitverlängerung von existierenden Reaktoren finanziert werden - und das könnte auch Deutschland betreffen. Denn die Probleme von alten Reaktoren in Nachbarländern können auch Konsequenzen für uns haben.
Eine historische Einordnung der Atommüllproblematik findest du in unserem egoFM Reflexikon. Die EU Kommission stößt seiner Meinung nach also zu Recht auf einiges an Gegenwind, die öffentliche Debatte über das grundsätzlich Für und Wider von Atomkraft trifft aber dennoch nicht das Problem, sagt Schneider.
Es geht nicht mehr um Pro und Kontra
Denn selbst wenn das Restrisiko, die Atommülllagerung, die Problematik der Weiterverbreitung von atomwaffenfähigem Material und viele weitere Probleme außer Acht gelassen werden und es nur um das Ziel der Klimaneutralität geht - selbst dann liefert Atomstrom nicht die Lösung, sagt Mycle Schneider deutlich. DennInvestitionen in Atomenergie und vor allem in neue Atomkraftwerke sind nicht profitabel, da der Bau viel zu viel Zeit benötigt, als dass so der Klimawandel gestoppt werden könnte.
"Wir müssen weg von der Frage "Pro oder Anti?", das ist überhaupt nicht mehr die Frage, sondern die Frage ist: Was ist überhaupt machbar? [...] Jenseits dessen, was man von Atomenergie hält, ist es einfach kein Mittel, was zur Verfügung steht bei der Bekämpfung der Klimakrise. Weil es zu langsam ist und weil es zu teuer ist." - Mycle Schneider
Der Experte wünscht sich, dass an dieser Stelle viel öfter mal ein Realitätscheck stattfinden würde - damit hätten sich einige (oft faktenfreie) Diskussionen und Überlegungen wahrscheinlich von selbst erübrigt.
Genau so unverständlich wie die nachhaltige Einordnung von Atomstrom ist es für Mycle übrigens, dass im Rahmen der Taxonomie-Verordnung auch Erdgas als nachhaltige Brückentechnologie eingestuft werden soll. Für ihn klingt das ganze Vorhaben sehr nach einem Handel, von dem vor allem Frankreich und Deutschland profitieren: Deutschland mit dem Interesse an Erdgas, Frankreich mit dem Interesse an Atomkraft.
Bis zum 21. Januar können EU-Mitgliedsstaaten die Verordnung kommentieren, wenn sich mindestens 20 EU-Staaten oder 353 Abgeordnete im EU-Parlament gegen die Verordnung zusammenschließen, kann sie verhindert werden. Das gilt als allerdings als unwahrscheinlich.
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