Sie sind Männer und geben Frauen die Schuld, dass sie allein und unglücklich sind. Aber was genau steckt eigentlich hinter der Incel-Community?
Content Note
In diesem Text geht es um Gewalt an Frauen und weiblichen gelesenen Menschen und Missbrauch von Kindern.
Wer ist Andrew Tate?
Wer einigermaßen auf TikTok, Instagram oder YouTube unterwegs ist, wird die letzten Wochen kaum um diesen Namen und die Debatte um ihn herumgekommen sein. Aber wer ist das und warum ist er mittlerweile von allen relevanten Social Media-Plattformen gesperrt? Die kurze Antwort: Weil er ein Misogynist ist, der Gewalt an Frauen und Mädchen propagiert und damit gerade Buben und junge Männer beeinflusst, es ihm gleichzutun.
Nun die etwas längere Antwort. Andrew Tate ist ein ehemaliger professioneller Kickboxer. Seinen aktuellen Namen hat er sich allerdings mit frauenfeindlichem Content auf TikTok gemacht. Beispiele gefällig? Andrew Tate ist der Meinung, Frauen können nicht Autofahren, gehören eigentlich eh nach Hause und seien sowieso der Besitz von jeweils einem Mann. Er selbst - ein 35-Jähriger - gibt öffentlich zu, nur Mädchen zu daten, die zwischen 18 und 19 Jahren sind. Dabei schwärmt er davon, dass man Mädchen in dem Alter noch formen und einen echten Eindruck auf sie machen kann. Leider ist dieser Stuss noch nicht alles. In seinen Videos präsentiert er sich auch als Frauenschläger, der gerne auch mal würgt oder Zeug von ihnen zerstört.
"It's bang out the machete, boom in her face and grip her by the neck. Shut up bitch", ist eines von Andrew Tates Zitaten.
Warum können wir es nicht gut sein lassen und ihn einfach ignorieren?
Immerhin ist er mittlerweile - nachdem es großen, weltweiten Protest auf Social Media gab - von den wichtigsten Internetplattformen gesperrt. Leider hatte Andrew Tate tatsächlich einen großen Einfluss auf junge Männer, diese im Frauenhass zu radikalisieren. Und was online angefangen hat, führt auch zu mehr Gewalt in der Offline-Welt.
Um jungen Männern seine fragwürdige (und teure) Hilfe zur Selbsthilfe anzuschwatzen, benutzt der Ex-Profisportler gerne mal Ausdrücke wie: "Aus der Matrix ausbrechen". Vokabular, das wir auch aus der Incel-Bewegung kennen beziehungsweise kennen sollten. Wir müssen also darüber reden. Wir - die selbst bestimmt auch Brüder, Schwestern, Eltern, Freund*innen oder sonst was von Jungs sind - müssen das System der Manipulation von Menschen wie Andrew Tate erkennen (natürlich ist er nicht der einzige). Wir müssen es frühzeitig erkennen, wenn unsere Buben in eine Bewegung reingeraten, die zunehmend gefährlicher wird. Zum Beispiel in folgendes...
Wer oder was ist ein Incel?
Der Begriff setzt sich aus den Wörtern "involuntary" und "celibate" zusammen - zu Deutsch: unfreiwilliges Zölibat. Die Mehrheit der Community besteht aus heterosexuellen jungen Männern, die keine sexuellen oder romantischen Beziehungen mit Frauen haben, obwohl sie ihrer Meinung nach das recht darauf hätten. Schuld an allem sind die (oberflächlichen oder nur am Geld interessierten) Frauen, Feminismus und die sexuelle Revolution. Die Ideologie der Incels ist höchst frauenfeindlich und gewalttätig - nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch attraktiven, sexuell aktiven Männern (sogenannten "Chads"). Incels gehören als Subkultur zur sogenannten Black Pill-Bewegung.
Demografie
Im März 2020 wurden von einer der größten Incel-Online-Foren - incel.co - die Ergebnisse einer Umfrage über deren Mitglieder veröffentlicht. Die Umfrage zeigte, dass...
...55 Prozent der teilnehmenden Mitglieder weiß sind
...43 Prozent in Europa und 38 Prozent in Nordamerika leben
...82 Prozent zwischen 18 und 30 Jahren alt sind: 36 Prozent sind zwischen 18 und 21 Jahre alt, 27,9 Prozent zwischen 22 and 25, 18,1 Prozent zwischen 26 und 30 und 8 Prozent jünger als 17
Interview mit Veronika Kracher
Wir haben mit der Autorin und Journalistin Veronika Kracher gesprochen und uns die Community erklären lassen. Veronika beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Incel-Subkultur und hat darüber auch ein Buch über sie geschrieben. Im Interview mit egoFM Lola hat sie uns (bereits im September 2020) mehr über die Entstehungsgeschichte der Bewegung erzählt und die Ideologie, die dahinter steckt. Das Interview kannst du hier hören:
Veronika Kracher über Incels
Das komplette Interview vom 03.09.2020
Die anderen sind Schuld...
"Die [Bewegung] besagt, dass es eigentlich kaum etwas Schlimmeres gibt, als ein unattraktiver Mann zu sein. Weil dann hat man keinen Sex und ein Leben ohne Sex ist total traurig und sinnlos. Und warum hat man als unattraktiver Mann keinen Sex? Weil alle Frauen total oberflächliche Schlampen sind, die nach der sexuellen Revolution und nach dem Feminismus anstatt mit einem Mann ihres Attraktivität-Levels zu verkehren, sich nur noch um sogenannte 'Chads' bemühen. 'Chads' sind in Augen von Incels sehr attraktiv und Paradebeispiele für hegemoniale Männlichkeit. Nach der Black Pill-Ideologie machen Chads 20% aller Männer aus. Chads können im Grunde jede Frau haben, sodass letztlich keine Partnerin mehr für den Incel übrig bleibt, der zu unattraktiv ist, um eine abzubekommen." - Veronika Kracher
Incels geben vor allem Frauen die Schuld für ihre Situation und ihre Unzufriedenheit, sodass sich hier ein regelrechter Hass auf Frauen entwickelt. Dieser Hass bleibt allerdings nicht immer in der Online Filterblase, manchmal schwappt er auch rüber in die reale Welt:
Incel-Attentate haben schon mehrere Leben gekostet
So hatten sowohl der Attentäter, der 2018 in Toronto durch eine Amokfahrt zehn Menschen getötet hat, also auch der 40-jährige Mann, der im selben Jahr noch in ein Yoga-Studio in Florida eindrang und zwei Frauen erschoss, genauso wie der Mann, der 2019 in Halle (Saale) ein Attentat auf eine Synagoge und einen Döner-Imbiss beging Connections zur Incel-Ideologie.
Zu Mördern werden allerdings nicht nur ältere Männer, sondern zunehmend auch Teenager. 2020 beispielsweise hat ein 17-jähriger Incel eine Sexarbeiterin in einem Massagesalon in Toronto ermordet. Und letztes Jahr erst wurde die 13-jährige Tristyn Bailey von einem 14-Jährigen brutal mit 114 Messerstichen getötet. In ihren Fußknöchel ritzte der Mörder "Karma". Warum? Weil Tristyn nicht mit ihm ausgehen wollte.
Wie hat sich die Incel-Bewegung entwickelt?
Eine Frau hat den Begriff der Incels geprägt. Sie gründete Ende der 90er-Jahre eine Online-Selbsthilfegruppe namens "Alana's Involuntary Celibacy Project". Ursprünglich waren Incels also eine Selbsthilfegruppe, die allen Menschen - egal welches Geschlecht und welche sexuelle Orientierung sie haben - offen stand. Die Gründerin verließ die Selbsthilfegruppe und als Selbstläufer wurde die Gruppe radikaler und bald eine Art Forum für den Hass heterosexueller Männer.
Auch Imageboards wie 4Chan, antifeministische YouTube-Kanäle, die auch den Begriff "friendzoned" einführten und prägten oder Pick-Up-Artist-Webseitenradikalisierten die Community weiter:
"[Es] war ein Forum, auf dem sich auch der Incel-Attentäter Elliott Rodger radikalisiert hat, wo sich Männer getroffen haben, die in die Seminare von Pick-Up-Artists gegangen sind und trotzdem keinen Erfolg bei Frauen verzeichnen konnten. Und anstatt zu dem Schluss zu kommen, dass die sexistischen Pick-Up-Artist-Techniken vielleicht nicht so das sind, womit man Frauen für sich begeistern kann, kam dann der Gedanke auf: 'Ich bin eigentlich zu hässlich, dass Frauen mich gut finden können', und das genau hat sich dann in diese Incel-Szene kumuliert." - Veronika Kracher
Für die Recherche für ihr Buch bewegte sich Veronika genau auf solchen Plattformen, Seiten und Foren. Dabei hat sie nicht nur wochen-, sondern teilweise jahrelang die Szene beobachtet und die Konversationen dort verfolgt, um die Kernelemente und wiederkehrende Themen der Bewegung zu dokumentieren und zu analysieren.
"Es gibt viele Sachen, die schockierend sind. Was dazu gehört ist beispielsweise, wie oft Incels mit Suizid oder Selbstverletzung kokettieren. Man muss auch bedenken, dass die Black Pill-Ideologie Incels selbst gegenüber massiv schädlich ist, da die Community kein solidarischer Ort ist, sondern einfach nur extrem toxisch." - Veronika Kracher
Und natürlich ist auch der blinde Hass gegen Frauen mehr als schockierend.
"Dazu gehört eben auch, dass Vergewaltigungen heruntergespielt werden - also: 'Frauen können gar nicht vergewaltigt werden, weil wenn ein Chad eine Frau vergewaltigt, genießt sie es eigentlich' oder 'Frauen haben es verdient, vergewaltigt zu werden' oder 'Ich würde ne' Frau vergewaltigen, wenn ich die Chance dazu hätte'. Und das geht dann eben stellenweise in eine Glorifizierung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige. Dass zum Beispiel gesagt wird, die perfekte Partnerin ist so 13 bis 15 Jahre alt, dann ist sie noch nicht vom Feminismus verkommen und ruiniert, dann kann man sie noch formen." - Veronika Kracher
Einer der radikalsten Auswüchse der Bewegung sind laut Veronika die sogenannten Pedo-Cels, die nur einen sehr kleiner Teil der Incel-Bewegung ausmachen. Diese sprechen offen davon, Kinder zu vergewaltigen. Sie sehen in der Vergewaltigung von Frauen und Kindern die einzige Möglichkeit, dem Incel-Dasein zu entkommen. Dieser Aspekt führte dazu, dass Veronika nach der Recherche einige Nächte Albträume hatte.
Incels hat Veronika im echten Leben noch keine getroffen, da sie Männern, die noch in der Szene stecken, keine Plattform geben möchte. Allerdings hat sie sich bereits mit Aussteigern unterhalten.
Parallelen zu einem Kult
Es gibt auf der Plattform Reddit beispielsweise ein Subreddit namens Incel-Excel - eine Plattform, auf der jungen Männern geholfen wird, aus der Incel-Community auszusteigen. Schon allein, dass es so ein Forum gibt, zeigt auch, dass es nicht so einfach ist, die Community zu verlassen wenn man einmal Teil von ihr gewesen ist.
Ein Blick in den Subreddit verdeutlicht, dass es für viele wie eine Art Droge geworden ist, in der Community unterwegs zu sein - auch wenn es sie unter anderem depressiv machen kann und sie dem Konsum eigentlich längst ein Ende setzen wollen:
"Ich denke, dass jeder Incel, der versucht, da raus zukommen, Unterstützung benötigt. Das sind ja (...) kultaartige Strukturen. Ich finde auch für Maskulisten generell - also auch für Pick-Up-Artists, Männerrechtsaktivisten - müsste es durchaus Supportangebote für den Ausstieg geben, ähnlich wie für Sektenmitglieder." - Veronika Kracher
Frauen unter den Incels?
"Es gibt Femcels, ja, das sind Frauen, die eben sagen: 'Ich krieg keinen Partner oder keine Partnerin, weil ich zu unattraktiv bin'. Die werden allerdings von männlichen Incels nicht immer anerkannt. Viele männliche Incels sagen, Frauen können keine Incels werden, weil jede Frau immer und überall Zugang zu Sex hätte und den halt auch immer haben will, weil diese Triebhaftigkeit in der weiblichen Natur liegt." - Veronika Kracher
Bei Femcels fiel Veronika auf, dass diese sich vor allem durch einen extremen Selbsthass und Selbstmitleid - der natürlich auch bei männlichen Incels auftritt - auszeichnen.
Aber ist an dieser Ideologie echt was dran?
Sind diese Menschen wirklich so unattraktiv, dass es ihnen schwerfällt, eine*n Partner*in zu finden? Erkennt man einen Incel an seiner Unattraktivität auf der Straße oder im Bekanntenkreis?
"Das Ding ist ja, Incels sagen, sie sind superhässlich - sind sie aber nicht! Es gibt ein Forum - das heißt Lookism.net, wo Incels sich gegenseitig optisch bewerten und sagen 'Was könnte ich machen, um attraktiver zu sein?' - meistens geht's da um plastische Chirurgie - und dann laden sie Fotos hoch... Überraschung: Das sind ganz normal aussehende junge Männer! Wo ich mir normalerweise denken würde, bei denen würde ich bei Tinder nach rechts wischen. Das ist auch noch etwas, das ich betonen will: Diese ganze Ideologie ist darauf ausgelegt, das Selbstbewusstsein und die Selbstliebe von Menschen komplett zu zerstören." - Veronika Kracher
Wie kann man Incels dann also erkennen?
Indem beispielsweise Eltern oder Lehrer*innen darauf achten, wie sich junge Männer über die Sprache ausdrücken - insbesondere beim Thema Frauen, Sex und andere Männer.
"Das ist auch etwas, wo Eltern, Lehrkräfte und vor allem unsere Gesellschaft in eine Verantwortung genommen werden muss, jungen Männern eben zu erklären, dass ihnen Sex nicht einfach so zusteht, dass sie Frauen als Mitmenschen und nicht als Sexobjekte betrachten sollen und dass sie halt auch letztendlich eine Identität aufbauen können, die nicht auf der Abwertung von allem Weiblichen basiert." - Veronika Kracher
Ideologie und Vokabular von Incels
In der Bewegung gibt es einige Begriffe und Ansichten, die es zu erkennen gilt. Die wichtigsten zeigen wir dir hier, eine vollständigere Liste findest du dort (auf Seite 9).
Die 80/20 Regel: Demnach haben 80 % der Frauen Zugang zu den Top 20 % der Männer, was bedeutet, dass 80 % der Männer lediglich Chancen auf 20 % der Frauen haben
Alpha / Chad: Der höchste Status, den ein Mann haben kann. Für Incels sind Alphas attraktiv und groß
Betabux: Ein Mann, der kein Alpha oder ein Chad ist, aber trotzdem in einer Beziehung mit einer Frau, weil diese an seinem Geld interessiert ist oder "The Wall" (siehe unten) überquert hat und mittlerweile keinen Sex mehr mit Chads oder Alphas haben kann
Blackpill / Schwarze Pille: Die Ideologie besagt, dass der individuelle Dating-Erfolg von der Attraktivität des Mannes abhänge. Hässliche Männer hätten demnach keinen Zugang zu sexuellen oder romantischen Beziehungen
Bluepill / Blaue Pille: Männer, die die blaue Pille geschluckt haben, leben Incels zufolge in einem Zustand der Ignoranz darüber, dass die Gesellschaft Männer diskriminiert...
Going ER: ER steht für "Elliot Rodger", der Begriff wird von Incels gebraucht, um einen Massenmord oder erweiterten Suizid zu beschreiben (oder zu feiern)
Looksmaxxing: Der Versuch, das Beste an Attraktivität aus einem rauszuholen, also beispielsweise ins Fitnessstudio zu gehen
Manosphere: Eine Zusammenfassung von antifeministischen, misogynen Online-Foren
Normie: Ein Mensch, der kein Teil der Incel-Community ist
Redpill / Rote Pille: Gegenteil von der blauen Pille
Sexual Marketplace: die moderne Dating-Welt
The Wall: Hierbei handelt es sich um das maximale Alter, das Frauen erreichen, bis ihr sexueller Wert sinkt - Incels zufolge beträgt dieses Alter 25 Jahre
Was kann ich tun, wenn ich den Verdacht habe, jemand mir Nahestehendes könnte in die Incel-Community geraten sein?
Informiere dich noch mehr über Incels
Optimal wäre es natürlich, ehrlich mit der Person zu reden. Zugegeben: Das ist oft leichter gesagt als getan...
Nimm die tiefer liegende Unzufriedenheit der Person ernst, ohne die Schlussfolgerungen der Incel-Ideologie zu legitimieren
Vertraue dich Expert*innen an. Als allererste Anlaufstelle bietet sich die Nummer gegen Kummer an, entweder direkt das Kinder- und Jugendtelefon (116111) oder das Elterntelefon (0800 111 0550). Dort bekommst du Auskunft darüber, welche weiteren Hilfsangebote - gegebenenfalls von geschulten Psychotherapeut*innen - du aufsuchen kannst
Auch egoFM Hörerin Theresa hat sich für ihre Bachelorarbeit mit dem Thema Incels auseinandergesetzt. Herausgekommen ist ein wunderbarer kleiner Animationsfilm, indem sie ganz überspitzt und mit viel Humor noch einmal verdeutlicht, wie absurd diese Ideologie eigentlich ist:
Am Feminism Friday erklären wir dir regelmäßig die wichtigsten Schlagworte und ordnen die umstrittensten Themen des Feminismus ein, mehr dazu findest du hier.
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