Überall heißt es, wir brauchen Intersektionalität im Feminismus – aber was genau bedeutet das eigentlich und wie ist der Begriff überhaupt entstanden?
Kritik an weißem Feminismus
Im Prinzip gibt es Intersektionalität schon immer - es fehlte nur der Begriff. Dieser wurde vor allem von der Schwarzen US-amerikanischen Juristin und Aktivistin Kimberlé Crenshaw Ende der 1980er-Jahre geprägt. Sie hat das Bild der Straßenkreuzung (Englisch: intersection) genutzt, um die Gleichzeitigkeit und Überschneidung von verschiedenen Unterdrückungsformen zu veranschaulichen und die Verwobenheit von Diskriminierung, Macht- und Herrschaftsstrukturen sichtbar zu machen. Der Gedanke der Intersektionalität entstand aus der Schwarzen feministischen Bürger*innenbewegung. Denn beim Thema Rassismus ging es damals vor allem um Schwarze Männer, beim Thema Feminismus um weiße Frauen - Schwarze Frauen wurden bei beidem kaum beachtet. So fragte die Frauenrechtlerin Sojourner Truth bereits 1851: "Ain't I a Woman?", also auf deutsch: Bin ich denn keine Frau? Durch einen intersektionalen Blickwinkel sollte diese Überschneidung von Rassismus und Sexismus aufgezeigt und der Fokus auf deren Wechselbeziehung gelegt werden.
Ursprünglich ging es also vor allem um Kritik an weißem Feminismus in den USA und die drei großen Unterdrückungsformen "Race, Class und Gender". Heute ist die Theorie des intersektionalen Feminismus allerdings weit verbreitet und es wurden viele weitere Kategorien - wie viele genau, darüber herrscht allerdings Uneinigkeit - mit einbezogen, zum Beispiel sexuelle Orientierung, Religion, Herkunft, sozioökonomischer Status, Behinderung. Das alles sind Faktoren, die verschiedene Formen der Diskriminierung mit sich bringen können, die sich dann wiederum gegenseitig verstärken und neue Formen der Diskriminierung hervorbringen können.
"Wir neigen dazu, über Ungleichheit aufgrund von Rassifizierung zu sprechen, als sei sie getrennt von Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Gesellschaftsschicht, Sexualität oder Einwanderungsgeschichte. Was dabei fehlt ist das Verständnis, dass manche Menschen all diesen Ungleichheiten ausgesetzt sind. Die Erfahrung dieser Menschen ist nicht einfach die Summe ihrer Teile." - Kimberlé Crenshaw
Weißer Feminismus ist noch immer ein riesiges Problem und wir empfehlen unbedingt Bücher wie zum Beispiel Against White Feminism von Rafia Zakaria, White Feminism von Rebecca Traister, The Trouble with White Women von Kyla Schuller oder White Tears/Brown Scars von Ruby Hamad dazu zu lesen.
Was will intersektionaler Feminismus heute?
Grundsätzlich kann gesagt werden: Intersektionaler Feminismus hat es sich zum Ziel gemacht, feministische Ziele nicht losgelöst von anderen strukturellen Unterdrückungen wie Rassismus, Klassismus, Ableismus etc. zu erreichen. Es geht bei Intersektionalität also darum, bestehende Diskriminierungsformen in die feministische Analyse mit einzubeziehen und alle Kämpfe für Gerechtigkeit zu verbinden. Das ist allerdings gar nicht so leicht.Denn eine alleinerziehende Mutter an der Armutsgrenze in Deutschland hat andere Probleme als ein junges Mädchen in Afghanistan, die wiederum andere Probleme hat als eine lesbische Frau in der Türkei oder eine Schwarze Frau in London, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist - logisch. Deswegen erlebt auch jede von ihnen andere Formen der Diskriminierung. Und es geht deswegen bei intersektionalem Feminismus darum, verschiedene Lebensrealitäten anzuerkennen und auch historische und regionale Kontexte zu beachten. Das bedeutet aber auch: Was für mich richtig ist, ist für andere vielleicht nicht die Lösung. Und genau deswegen ist es so wichtig, sich mit vielen verschiedenen Menschen auszutauschen und möglichst viele Perspektiven kennenzulernen. Dafür ist es notwendig, auf verschiedene -ismen zu achten, eigene Privilegien zu erkennen und das eigene Denken und Handeln selbstkritisch zu hinterfragen, um dann - wenn möglich - gemeinsam Lösungen zu finden.
Intersektionaler Feminismus will einen grundsätzlichen Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung führen, nicht nur gegen einzelne.
Folglich soll eine gerechtere Zukunft für alle erreicht werden, nicht nur für bestimmte, privilegierte Gruppe. Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Wenn Feminismus nicht intersektional gedacht wird, besteht die Gefahr, dass Unterdrückungsformen nur verschoben werden. Zwei Beispiele zur Veranschaulichung:Für gleichen Lohn zwischen Männern und Frauen zu kämpfen ergibt nur Sinn, wenn es auch gleichen Lohn zwischen Schwarzen Menschen und weißen Menschen gibt. Außerdem sind mehr Frauen in Führungspositionen eigentlich nur dann erstrebenswert, wenn sie nicht in Firmen sitzen, die beispielswiese Mädchen und Frauen im globalen Süden ausbeuten. Wie Audre Lorde schon sagte:
"Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich." - Audre Lorde
Kritik am intersektionalen Feminismus
So idealistisch das alles auch klingen mag - es gibt auch Kritik am intersektionalen Feminismus; weniger am Konzept grundsätzlich, sondern vor allem an der praktischen Umsetzung. Einige kritisieren zum Beispiel, dass Intersektionalität schnell in einer Art "oppression Wettbewerb" endet beziehungsweise Unterdrückungsformen gegeneinander aufgewogen werden und am Ende nur wieder in hierarchisch geordneten Kasten gedacht wird. Außerdem existieren so viele verschiedene Diskriminierungsformen, welche gerade allerdings "am relevantesten" ist, ist ziemlich abhängig von der eigenen Bubble, in der man sich bewegt - andere Diskriminierungsformen fallen dann schnell wieder hinten unter, was bedeutet, dass am Ende doch wieder das passiert, was der intersektionale Feminismus eigentlich verhindern will. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Verwobenheit der verschiedenen Diskriminierungsformen zu einer Handlungsohnmacht führen, merken Kritiker*innen an. Und so sinnvoll es auch ist, möglichst viele Perspektiven mit einzubeziehen, geben einige Stimmen auch zu bedenken, dass es in der Realität sehr schwierig ist, Intersektionalität tatsächlich praktisch anzuwenden, wenn das bedeutet, dass alle Kämpfe gleichzeitig gekämpft und alle Perspektiven gleichzeitig bedacht werden sollen. Zudem lässt ein intersektionaler Blickwinkel, wie bereits erwähnt, eben auch ganz zwangsläufig immer unterschiedliche Ziele innerhalb des Feminismus sichtbar werden, für die erstmal gemeinsame Lösungen gefunden werden müssen.
Was ist also das Fazit?
Intersektionaler Feminismus macht darauf aufmerksam, dass verschiedene Unterdrückungsformen gleichzeitig passieren, sich gegenseitig bedingen und dadurch auch eigene, neue Diskriminierungsformen zum Vorschein bringen. Das ist wichtig zu begreifen und bedeutet, dass in einem Folgeschritt Unterdrückungsformen am besten gemeinsam abgebaut werden müssen. Das kann funktionieren, indem verschiedene Perspektiven kennengelernt und in das eigene Denken und Handeln einbezogen werden. Wichtig ist aber auch:Die Unterschiede, die durch einen intersektionalen Blickwinkel sichtbar werden, dürfen nicht dazu führen, dass wir uns voneinander weg, sondern aufeinander zu bewegen. Denn natürlich können sich feministische Anliegen auch widersprechen und auch innerhalb des intersektionalen Feminismus gibt es Differenzen – das bringen die jeweiligen und sehr verschiedenen Lebensrealitäten mit sich. Unterm Strich geht es aber vor allem um Solidarität und darum, Benachteiligung nicht nur zu verlagern.
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