Meinung: Klassiker müssen neu definiert werden

Meinung: Klassiker müssen neu definiert werden

Für mehr Diversität in Bücherregalen

Von  Anna Taylor
Wir sollten anfangen andere Sichtweise einzunehmen um uns stets weiterentwickeln zu können - Literatur spielt hierbei eine sehr wichtige Rolle.

Die Kategorie Klassiker hat ein Diversitätsproblem

Kannst du dich noch daran erinnern, welche Bücher zu Schulzeiten du so lesen musstest? Goethe, Schiller, Lessing, Preußler... fällt dir was auf? Alles weiße Männer. Dahinter steckt bestimmt mehr als Zufall oder "einfach mehr Können", wie man ja gerne mal sagt. 

Warum genau ist das ein Problem? 

"Ist doch egal ob männlich oder weiblich - es geht doch um die Qualität. Vielleicht können Männer einfach besser schreiben?"

Zwei Gründe, warum diese Aussage höchst problematisch ist.

Nun, zuerst einmal: Es hängt nicht am Geschlechtsteil, ob man gut schreiben kann. Genauso wenig wie man damit besser Auto fahren, diskutieren, anführen oder Geld verwaltet kann. Aussagen wie diese verhärten Klischees, statt Wissen zu schaffen.
Obendrauf klammert diese Aussage eine relevante Tatsache aus:
Menschen, die sich nicht als heterosexueller weißer Cis-Mann lesen lassen, wurden schon immer benachteiligt. Wer also sagt, Männer könnten einfach besser schreiben, ignoriert, dass marginalisierten Gruppen unter anderem Bildung verwehrt wurde und diese gar nicht erst schreiben oder lesen lernen durften. Dass Publikationen von eben jenen ernst genommen wurden, war noch mal viel später. Und leider denken immer noch viele Leser*innen: Frauen schreiben für Frauen. Weswegen viele erst gar nicht erst den Klappentext lesen. Denn die Allgemeinheit scheint der Meinung zu sein, dass weibliche Literatur nur weibliche Personen interessieren kann, weil es darin sicherlich nur um Gefühle, Liebeskummer und sonstige Gefühlsduselei geht.
Daher ist es seit jeher keine Seltenheit, dass Frauen männliche Pseudonyme benutzt haben, um mehr Aufmerksamkeit für ihre Werke zu bekommen. George Eliot zum Beispiel hieß eigentlich Mary Ann Evans - mehr darüber erfährst du in unserem Artikel über die Aktion "Reclaim her Name".

In der Philosophie gibt es außerdem den Ansatz der epistemischen Ungerechtigkeit.

Demnach gelten Angehörige bestimmter sozialer Gruppen als weniger glaubwürdig, weil sie mit Vorurteilen behaftet sind. Heißt: Wenn Frauenfiguren von Autoren als hysterisch und nicht passioniert beschrieben werden, werden ihre Gefühle weniger ernst genommen. Diese Beschreibung setzt überträgt sich von der Literatur auf die Realität, dass Frauen generell nicht so viel Glaubwürdigkeit entgegengebracht wird. Das wiederum führt dazu, dass es jenen von Vorurteilen behafteten Gruppen schwerer fällt, der breiten Masse Wissen mitzuteilen. Und wenn wir uns jemals weiterentwickeln wollen reicht es nicht, nur auf das zu hören, was eine bestimmte soziale Gruppe, der Cis-Mann, zu sagen hat.

Was macht einen Klassiker überhaupt aus?

Als wir in die Facebook-Runde gefragt haben, was einen Klassiker zum Klassiker macht, viel unter anderem die Antwort:
"Ein Klassiker ist ein Werk, das mehrere Jahrzehnte überdauern und immer noch aktuell sein kann."
Klingt ziemlich richtig. Demnach müssten wir allerdings hier und jetzt gefühlt jedem dritten Werk den Klassikerstatus absprechen. Denn komm schon: Wie aktuell ist die Gretchenfrage? Oder Effie Briests Dilemma? Es wird nicht nur eine wahnsinnig weiße, männliche Sicht auf die Welt gezeigt, sondern auch noch eine veraltete, mit problematischen Frauenbildern. Simone de Beauvoirs feministische Probleme hingegen sind - leider - nach wie vor brisant. Das nur mal als Beispiel. 
Doch auch die Werke, die definitiv noch als aktuell gelten, beleuchten nur einen kleinen Teil großer Themen, da sie alle aus derselben Perspektive entstammen.

Der Fänger im Roggen beschreibt das Coming of Age eines Cis-Jungens.

Der Autor J. D. Salinger beschreibt diesen Prozess derart gut, dass Der Fänger im Roggen auch übers Geschlecht hinaus gefeiert wird. Das Werk hat definitiv den Klassikerstatus verdient - die Frage brennt trotzdem, warum es keinen Klassiker über den erwachenden Hormonalptraum im Coming of Age eines Cis-Mädchens gibt. Oder noch viel interessanter: Das Coming of Age eines Menschen der erkennt, im falschen Körper gefangen zu sein. Oder wie ein Mensch mit Be_Hinderung die Pubertät erlebt. Oder wie sich die Probleme des Erwachsenwerdens mit Rassismus potenzieren können.
All das sind Erfahrungen, die uns vorenthalten werden, weil Publikationen in der Vergangenheit entweder nicht beachtet wurden oder schlichtweg nie hätten veröffentlicht werden können. Auch im literarischen Kanon im Deutschunterricht, der durchaus mal etwas modernisiert werden könnte, werden diese Werke ignoriert. Dort, wo sie viel sinnvoller wären als Iphigenie auf Tauris - das Prinzip der Katharsis lässt sich auch anders gut erklären.

Bildung lebt von vielfältigen Perspektiven

Um es auf den Punkt zu bringen: Viele verschiedene Menschen haben viele verschiedene Erfahrungen über die sie vieles verschiedenes lehren können. Und es ist schade, dass der Fokus in der Schulbildung lediglich auf den Erfahrungen weißer Männer liegt. Wie sinnvoll es wäre, in der Schule über Literatur näher an Themen wie Rassismus, Feminismus, Ableismus, Homophobie geführt zu werden, statt dazu alle paar Monate ein paar Ausnahmeseminare absitzen zu müssen.

Der Gedanke, gemeinschaftlich für eine bessere, gerechtere Welt zu kämpfen, ließe sich prima über spannende Bücher stärken, in denen man Ungerechtigkeit über den*die Erzähler*in hautnah miterleben kann.




Letztlich geht es um Empathie

Die Weltbevölkerung setzt sich nunmal aus vielen verschiedenen Menschen zusammen. Und für einen respektvollen Umgang miteinander wäre es sinnvoll, wenn sich diese Vielfalt auch in den Medien widerspiegelt, die wir konsumieren. Damit jede*r mal in der Haut eines*einer anderen steckt und nicht nur mit verschiedenen Gefühlen, sondern auch verschiedenen Problemen konfrontiert wird. Das wäre wahre Aufklärung.

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