Wir sehen Stände an denen der Wachtturm verteilt wird und wissen sofort – Zeugen Jehovas. Aber immer wieder haben wir auch Berührungspunkte mit Sekten, ohne es zu merken.
Das Universelle Leben hat zum Beispiel auf dem Viktualienmarkt einen Stand und hinter der Kampagne "Sag NEIN zu Drogen" steht Scientology. Grund genug, sich das Thema "Sekte" mal genauer anzuschauen.
Theologe Matthias Pöhlmann im Gespräch mit Max
Das Interview zum Nachhören
Der Begriff "Sekte"
Matthias Pöhlmann ist evangelischer Pfarrer und seit 2014 auch der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Wir haben mit ihm im Rahmen unserer Themenwoche "Glaube" über Sekten gesprochen.
Zu Beginn erklärt Matthias Pöhlmann, dasss der Begriff der Sekte sehr umstritten ist und meist vorverurteilend verwendet wird. Stattdessen spricht Pöhlmann von konfliktträchtigen Gruppen, Bewegungen und Angeboten. Der Einfachheitshalber nutzen wir dennoch den Begriff Sekte.
Kennzeichen einer Sekte
Grundsätzlich entsteht in einer Sekte eine psychische und finanzielle Abhängigkeit und Manipulation von Mitgliedern. Verschiedene Sekten sind aber unterschiedlich gefährlich. Es gibt auch Bewegungen, die keinen Gruppendruck auf die Mitglieder ausüben.
Andere hingegen sind sehr konfliktträchtig und vereinnahmend. Vor allem dann, wenn die eigene Entscheidungsfreiheit aufgegeben oder der Kontakt zu Freunden und Familie abgebrochen werden soll.
Sekten funktionieren oft nach einem Schlüssel-Schloss Prinzip:
Das heißt, dass ein Angebot genau zu der Bedürfnislage einer betroffenen Person passt.
Viele Sekten ermöglichen ein geschlossenes Weltbild, was sich Menschen in dieser komplexen Welt oft wünschen. Andere Personen suchen zum Beispiel nach neuer Orientierung, haben eine Krisenerfahrung erlebt oder sind auf der Suche nach persönlicher Vervollkommnung.
Ein Bereich, in dem vor allem der Wunsch nach persönlicher Vervollkommnung ausgenutzt wird, ist der Bereich des Life-Coachings.
Selbstoptimierung und Coaching
Für die Art der Abhängigkeit, wie sie in vielen Sekten existiert, braucht es nicht zwingend eine feste, verbindliche Gemeinschaft – sie kann auch gegenüber einem selbsternannten Life-Coach entstehen. Diese erheben einen höheren Erkenntnisanspruch für sich - fachliche Kompetenzen spielen dabei keine Rolle.
Sie behaupten zum Beispiel, dass sie mehr in der Aura eines Menschen erkennen können und dadurch auch mehr über den Menschen und dessen Seele wissen.
"Das führt eben dazu, dass manche Menschen leichtfertig und fast ausschließlich den Ratschlägen und Anweisungen eines solchen Coaches folgen." – Matthias Pöhlmann
Diese Leherer*innen verkörpern eine Autorität und geben den Betroffenen das Gefühl, zu wissen was gut für sie ist und was nicht.
Viele Coaching Angebote in Deutschland sind nicht wissenschaftlich fundiert. Das liegt vor allem daran, dass "Coach" keine geschützte Berufsbezeichnung ist. Teilweise arbeiten Coaches mit mehr als fragwürdigen Methoden - zum Beispiel dem Neurolinguistischen Programmieren, was auch von Scientology genutzt wird. Grundsätzlich gilt: Coaching ist ein Verfahren für gesunde Menschen und keine Alternative zu einer Therapie.
Öko-Sekten
Vielleicht hast du bei dem Lebe Gesund – Stand auf dem Viktualienmarkt schon mal Brot oder einen veganen Aufstrich gekauft - ohne zu merken, wer oder was eigentlich hinter den Produkten steht: Das Universelle Leben.
Das Universelle Leben hat schätzungsweise etwa 10.000 Mitglieder in Deutschland. Die Gründerin Gabriele Wittek hält sich für die größte Prophetin seit Jesus und führt Gottes Auftrag aus, indem sie Offenbarungen empfängt und weitergibt. Vieles dreht sich um Reinkarnation, Tier- und Naturschutz und das 1000-jährige Reich des Friedens. Jegliche Kritik, zum Beispiel an ihrer Methode Gehirnzellen umzuprogrammieren, wird heftig bekämpft. Matthias Pöhlmann sagt natürlich, dass es jedem*r offen steht, wo er*sie einkauft, allerdings sollte natürlich klar sein, was jeweils damit unterstützt wird. Er selbst beobachtet das Universelle Leben seit den 80ern und hält es für eine sehr konfliktträchtige Gruppierung.
Das Universelle Leben ist aber längst nicht die einzige Sekte, die mit Naturverbundenheit wirbt.
"Insgesamt ist dieser Trend sehr interessant, weil Ökologie und Weltanschauung oft Hand in Hand gehen." – Matthias Pöhlmann
Das beobachtet er auch in der rechten Esoterik Szene, mit der er sich seit zwei Jahren beschäftigt.
Rechtsesoterische Sekten
"Man denkt ja immer Öko, das ist eher links. Hier können wir beobachten, dass durchaus auch, ich möchte sagen verschwörungstheoretische, antisemitische und antidemokratische Überzeugungen, zu finden sind." – Matthias Pöhlmann
Ein Beispiel dafür ist die Anastasia-Bewegung, zu der es in verschiedenen Länderparlamenten schon Anfragen gab.
Die Anastasia-Bewegung beruht auf einer zehnteiligen Buchreihe des russischen Autors Wladimir Megre mit esoterisch-spirituellen, verschwörungsideologischen, rassistischen und antisemitischen Inhalten. In dieser Szene gibt es Bezüge bis hin zur Identitären Bewegung, zur Reichsbürgerszene und eben auch zur Esoterikszene. In Deutschland gibt es ungefähr 800 Anhänger*innen, die sich im ländlichen Raum ausbreiten, "Familienlandsitze" gründen und als Selbstversorger*innen leben.
"Das Wut- und Frustpotenzial ermöglicht hier plötzlich eine Verflüssigung der Grenzen zwischen antidemokratischen Bewegungen, antisemitischen Überzeugungen und ja auch verschwörungsesoterischen Gedanken." – Matthias Pöhlmann
Tarnorganisationen von Scientology in München
Scientology wird in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet, ist aber nicht verboten. Der Gründer Ron Hubbard verspricht durch Scientology "wahrhaftige spirituelle Vervollkommnung und Freiheit" - Aussteiger*innen berichten von Zwängen, Manipulation, Überwachung und hohen Kosten. In München wirkt die Sekte stark über Tarnorganistionen: Religionsehrer*innen erhielten Post von der Organisation "Der Weg zum Glücklichsein", vor allem in Imbissen liegen immer wieder Broschüren der Intiative "SAG NEIN zu Drogen" - beides fundiert auf Gedankengut des Gründers von Scientology.
Letzten Sommer gab es außerdem in einem Laden im Glockenbachviertel eine Ausstellung unter dem Motto "Psychiatrie – Nebenwirkung Tod". Auch diese Ausstellung war auf eine Tarnorganisation von Scientology zurückzuführen.
Hilfe und Prävention
Wichtig ist es, Kontakt zu einer Beratungsstelle aufzunehmen. Die katholische und die evangelische Kirche bieten das zum Beispiel grundsätzlich an.
"Das schwierigste ist oft, die eigene Ohnmacht überhaupt ertragen zu müssen, weil man kann ja jetzt nicht mit Gewalt jemanden aus einer solchen Gruppe rausholen." – Matthias Pöhlmann
Gerade deswegen ist es gut, einfach den Kontakt zu der betroffenen Person versuchen zu halten und emotionale Zuwendung zu zeigen.
In unserer Zeit, in der der religiös-weltanschauliche Pluralismus zunimmt, ist es wichtig, sich jedes Angebot genau anzuschauen. In einem ersten Schritt kann einfach mal recherchiert werden, ob die Gruppe durch öffentliche Kritik schon mal aufgefallen ist und ob es Erfahrungsberichte gibt.
"Religion ist nicht immer nur positiv. Es gibt auch Formen wo Menschen in Abhängigkeit geraten können und manipuliert werden können. Deswegen ist denke ich eine Aufklärung und Sensibilisierung von Menschen immer wichtig." – Matthias Pohlmann
Matthias Pöhlmann verlässt sich da ganz auf den Apostel Paulus: "Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit." (2. Korinther 2,17)
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