So geht Zivilcourage

So geht Zivilcourage

In Notsituationen eingreifen - aber richtig

Zivilcourage ist häufig leichter gesagt als getan. Wir haben mit Menschen gesprochen, die uns genau erklären können, wie wir anderen helfen können und was wir im Ernstfall beachten müssen.

Sicherlich ist jede*r von uns schon mal in der Situation gewesen, in der wir selbst Ungerechtigkeit erfahren haben und uns Hilfe von außen sehr gewünscht haben. Oder wir haben einen solchen Ernstfall beobachtet, wie zum Beispiel eine rassistische Äußerung oder sexuelle Belästigung. Sich für jemanden einzusetzen, der sich aus der Situation heraus selbst nicht mehr helfen kann - das sollte in der Theorie eigentlich selbstverständlich sein.

Doch wie genau verhalte ich mich richtig?

Verena Berthold die Vorsitzende des Vereins "Zivilcourage für ALLE" hat mit unserer Moderatorin Elise darüber gesprochen, was du beachten solltest, wenn du dich für andere einsetzt.

Seit fast zehn Jahren besteht der Münchner Verein "Zivilcourage für ALLE", der es sich zum Ziel gemacht hat, Zivilcourage in der Bevölkerung zu stärken und zu fördern.

"Zivilcourage bedeutet nicht wegzuschauen, sondern erst recht etwas zu tun, wenn man merkt, dass jemand Hilfe braucht und sich selbst nicht helfen kann." - Verena
Und das ist gar nicht so schwer - auch wenn es in der Praxis oft erstmal wie eine große Hürde wirkt, da man nicht genau weiß, was der richtige Schritt wäre. Damit wir das nächste Mal wissen, wie wir uns am besten verhalten, sind wir mit Verena verschiedene Szenarien und Handlungsnotwendigkeiten durchgegangen. 

Aktiv werden!

"Das Erste ist, überhaupt den ersten Schritt zu machen - wie auch immer der aussieht. Aber das Wichtigste ist einfach, erstmal aktiv zu werden. Das Schlimmste ist nämlich, wenn niemand etwas tut." - Verena
Zuerst solltest du zwischen einer verbalen Belästigung, die sich auf die Sprache beschränkt, und einer körperlichen Gefahr unterscheiden, um die Situation und die verschiedenen Handlungsnotwendigkeiten einschätzen zu können und dich selbst dabei nicht in Gefahr zu bringen.

Erlebst du beispielsweise, dass eine andere Person in irgendeiner Weise verbal belästigt oder diskriminiert wird, ist man oft vorerst dazu geneigt, sich mit Wut gegen den*die Angreifer*in zu wenden. Verena erzählt uns aber, dass es anfangs am hilfreichsten ist, sich weg von dem Angreifenden und hin zu dem Opfer zu drehen.

Man sollte versuchen, das Opfer aus der Situation zu führen, es zu fragen, ob es Hilfe braucht und ob es sich unwohl fühlt.

Du zeigst ihm*ihr dadurch, dass er*sie gehört und gesehen wird - und mit der Belästigung nicht alleine ist.
"Das Opfer aus der Situation zu ziehen, ist erst einmal wichtiger als den Täter zur Rechenschaft zu ziehen." - Verena
Wenn es sich um einen verbalen Angriff handelt (und keine körperliche Gefahr besteht!), solltest du dir anschließend je nach Situation und Grad der Bedrohung überlegen, was für ein Ziel du mit der Hilfe verfolgst:

Möchte ich zunächst das Opfer schützen und ihm*ihr meine Solidarität bekunden - oder möchte ich als Erstes vielleicht eine Einstellungsänderung bei dem*r Angreifenden erzielen?

Je nachdem, wie du dich in der Situation entscheidest, sieht dementsprechend auch die Strategie etwas anders. Bei einer erzielten Überzeugung ist eine tiefere Argumentation wichtiger, wie wenn der Fokus auf dem Opfer liegt.
"Da reicht schon ein: 'Ich sehe das anders und ich bin nicht einverstanden mit deinem Verhalten.' So kann man schon einmal die schweigende Masse durchbrechen." - Verena
Besonders wichtig ist es, selbst auch in ausartenden Situationen (soweit es geht) ruhig zu bleiben. Sobald man als Außenstehende*r panisch und hektisch reagiert, kann es passieren, dass man die Situation noch verschlimmert.




Die wichtigste Grundregel...

Bring' dich selbst dabei nicht in Gefahr.

Wenn aus verbalen Angriffen Handgreiflichkeit wird, raten Verena und ihre Kolleg*innen von "Zivilcourage für ALLE", grundsätzlich Abstand zu halten. Denn im Allgemeinen bedeutet Zivilcourage zwar einzugreifen, jedoch auch auf sich zu achten und sich selbst dadurch nicht in Gefahr zu bringen. 
"Zivilcourage heißt nicht, dass man heldenhaft dazwischen gehen muss und dabei alles riskiert. Man tut etwas, berücksichtigt aber auch seine eigenen Grenzen." - Verena
Das bedeutet aber wiederum auch nicht, dass man untätig bleibt...

Hol' dir Hilfe

Such dir Unterstützung in deinem Umfeld und verständige die Polizei.

Hab' keine Hemmungen, das Notrufsystem in Anspruch zu nehmen - denn dafür sind sie da!

"Bei S- und U-Bahnstationen kann man zum Beispiel auch das Notrufsystem aktivieren oder die Notbremse, wenn man im Gefährt ist. So etwas geht immer. Damit kann man auch nichts falsch machen, denn wenn man das Ganze nicht mutwillig missbraucht hat, kann man nicht zur Verantwortung gezogen werden."- Verena

Außerdem kann es für alle Beteiligten hilfreich sein, andere Menschen im Umfeld mit ins Boot holen. Verena erklärt, dass es dabei besser ist, Leute direkt anzusprechen und sie um Mithilfe zu bitten, als allgemein nach Hilfe zu rufen.

Einzelpersonen fühlen sich dabei direkt angesprochen und zeigen eine größere Mitverantwortung.


markus-spiske-wopu8kmmena-unsplash.jpg
Bildquelle: Unsplash | Markus Spiske | CC0

Zusätzlich solltest du bei Handgreiflichkeiten darauf achten, dass sowohl Opfer als auch Täter immer die Möglichkeit zur Flucht haben sollten.

"Es sollte nie jemand lokal eingegrenzt sein. Das kann nämlich das Stresslevel erhöhen und wiederum dazu führen, dass jemand Dinge tut, die so nicht vorgesehen waren." - Verena

Hilfsmittel To Go

Für den Fall einer wirklich gefährlichen Situation empfiehlt Verena, immer eine Mini-Alarmanlage dabei zu haben. Die kannst du dir einfach an den Schlüsselanhänger stecken und hast sie dadurch immer unterwegs parat. Sie ist (vor allem im Hinblick auf ihre Größe) mit über 100 Dezibel ziemlich laut und kann für viel Ablenkung sorgen und kurz den Fokus auf sich ziehen, wenn man sie in die Richtung des*der Angreifer*in wirft.

Oft sind die Streitenden dann kurz verwirrt und bemerken wie viel Aufmerksamkeit sie auf sich gezogen haben.
 Im besten Fall sorgt es sogar dafür, dass sie durch diese Erkenntnis und den kurzen Schock sogar ganz auf die Gewalt verzichten. Natürlich funktioniert das nicht immer - doch es ist eine Option, die Situation aufzulösen, die sich auf jeden Fall lohnt. 



Zivilcourage kann jeder lernen

Neben der Aufklärungsarbeit, die Verena und ihre Kolleg*innen in Form von Vorträgen betreiben, bietet der Verein auch Trainings für Gruppen oder Einzelpersonen an. Auch Schulklassen, Firmen oder Institutionen können "Zivilcourage für ALLE" buchen, um sich handfeste, praktische Ratschläge für jeden Notfall zu holen - und um diese überhaupt erkennen zu können.

Zusätzlich bietet der Verein auch alle drei Monate ein offenes ganztägiges Training an, um Teilnehmer*innen für das Thema zu sensibilisieren und sie auf die verschiedensten Fälle vorzubereiten.

"Wann ist überhaupt Zivilcourage gefragt und wie kann ich helfen, ohne mich selbst dabei zu gefährden? Das bedeutet, wir geben ein bisschen theoretischen Input, aber vieles wird auch in praktischen Übungen eingeübt. Was kann ich tun, wenn ich ausländerfeindliche Parolen höre oder wenn ich Prügeleien beobachte? Dazu machen wir Rollenspiele, gehen in den Erfahrungsaustausch und führen Diskussionen. Die Trainings sind sehr interaktiv und leben ganz stark von den Erfahrungen und Eindrücken der Teilnehmer*innen." - Verena

"Ein Satz hilft - Zeig Courage"

Am 19. September ist wie jedes Jahr wieder der bundesweite Aktionstag für Zivilcourage.

Dafür veranstaltet der Verein "Zivilcourage für ALLE" einen Poetryslam mit dem Motto "Ein Satz hilft - Zeig Courage" auf der alten Utting in München, um auf das Thema noch einmal mehr aufmerksam zu machen.

"Jeder kann etwas tun und das Wichtigste ist, dass man überhaupt etwas tut. Auch wenn wir intuitiv keine Ahnung haben, wie wir anderen helfen können, kann man andere hinzuziehen und auf die Situation aufmerksam machen." - Verena
Auf der Seite des Vereins "Zivilcourage für ALLE" kannst du noch mehr zum Thema Zivilcourage erfahren und dich auch für ein Training bei Verena und ihren Kolleg*innen anmelden.



Aktion "Tu-Was"

Auch auf der Seite der Gesetzeshüter setzt man sich selbstverständlich für Zivilcourage ein. Mit einer speziellen Kampagne ruft die Polizei schon seit rund 20 Jahren zur Zivilcourage auf.

Jetzt hat sie mit der Aktion "Tu-Was" einen neuen Namen bekommen. Die Bundesweite Initiative der Polizei soll zur Stärkung der Zivilcourage dienen und eine Kultur des Hinschauens unterstützen.

Diese Initiative ruft besonders zur Meldung der Straftaten an die Polizei auf - denn nur so kann gegen Verbrechen vorgegangen werden. Wir haben dazu mit Herrn Schneider gesprochen, dem Polizeidirektor und Leiter der polizeilichen Kriminalprävention.
"Jede*r von uns trägt Verantwortung dafür, dass das Zusammenleben in unserer Gesellschaft friedlich und zivilisiert verläuft. Deshalb ist auch jede*r gefordert, selbst als Zeug*in und Helfer*in aktiv zu werden."

Die Aktion "Tu-Was" hat für Notfallsituation einen Regelkatalog erstellt, der es Zeug*innen erleichtern soll, im Ernstfall richtig zu handeln:

  1. Hilf, aber bring' dich nicht selbst in Gefahr.
  2. Ruf' die Polizei unter 110.
  3. Bitte andere um Hilfe.
  4. Präge dir Tätermerkmale ein.
  5. Kümmere dich um Opfer.
  6. Sage als Zeuge aus, stell' dich der Polizei zur Verfügung und hilf zur Aufklärung beizutragen.
"Jede Form von Gewalt gegen Menschen sollte andere zur Zivilcourage bewegen. Letztlich sind wir auch alle durch das Gesetz verpflichtet, bei einer Straftat im Rahmen unserer individuellen Möglichkeiten einzugreifen und zu helfen." - Herr Schneider

Trotzdem fällt es vielen schwer in einer Notsituation als Außenstehende*r einzugreifen.

Manche haben Angst, etwas falsch zu machen, selbst verletzt zu werden oder die Situation überhaupt erst richtig einzuschätzen.
"Wenn man sich nicht sicher ist, reicht es erst einmal schon, aus angemessener Distanz jemanden anzusprechen und zu fragen ‚Brauchen Sie Hilfe?'" - Herr Schneider

Um sich selbst in einem Notfall richtig verteidigen zu können, empfiehlt Herr Schneider, sich zu schützen und auf Härtefälle vorzubereiten - und zwar in Form eines "Selbstbehauptungskurses" anstelle eines Selbstverteidigungskurses.

 "Im Selbstverteidigungskurs stehen körperliche Abwehrtechniken im Mittelpunkt. Diese muss man jedoch regelmäßig trainieren, wenn man sie im Ernstfall effektiv anwenden will. Ein Schnupperkurs reicht da nicht und wäre daher nur eine Scheinsicherheit. In Selbstbehauptungskursen geht es um Stärkung der eigenen Person, um in Situationen ganz klar reagieren zu können und gezielt Grenzen setzen zu können." - Herr Schneider



Hier kannst du das ganze Interview mit Verena von "Zivilcourage für ALLE" nachhören:

  • Zivilcourage für ALLE
    Das Interview zum Nachhören

Design ❤ Agentur zwetschke