Soziale Angst anerkennen

Soziale Angst anerkennen

Angstforscher Dr. Jürgen Hoyer im Interview mit Max

Unserer egoFM Themenwoche dreht sich diese Woche nicht nur um das Thema Mut, sondern eben auch das Gegenteil - die Angst. Um die zu verstehen, haben wir uns einen Experten an die Strippe geholt.

Prof. Dr. Jürgen Hoyer ist Inhaber der Professur für Behaviorale Psychotherapie an der TU Dresden und hat unter anderem das Buch Soziale Angst verstehen und verändern mitgeschrieben und veröffentlicht.
Im Interview spricht er mit egoFM Max über die Feinheiten der - nicht nur sozialen - Ängste.
  • Angstforscher Dr. Jürgen Hoyer
    Zu Gast bei Max


Was ist Angst?

In gefährlichen Situationen haben wir alle Angst, meint Jürgen Hoyer. Und das ist auch gut so, denn Angst macht uns extrem schnell und handlungsfähig. Ein Leben ohne Angst gibt es nicht und sei auch gar nicht wünschenswert.
"Leute die versprechen es gäbe ein Leben ohne Angst sind Scharlatane. Das gibt es nicht. Man muss Angst haben, um Gefahren kennenzulernen und um ihnen ausweichen zu können. Das Geheimnis bei der Angst ist: Sie macht Menschen extrem schnell. Sie handeln dann quasi reflexhaft und so können sie der Gefahr effizient ausweichen." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer


Ab wann ist Angst "klinisch relevant"?

Alltagsängste wie zum Beispiel Prüfungsangst oder die Angst, eine Rede zu halten, sind grundsätzlich normal. 
"Nur das Maß unterscheidet dann darüber ob es störend, beeinträchtigend, problematisch ist und damit 'klinisch relevant.' Also die eindeutige Grenze zu ziehen hängt letztlich vom Individuum ab. Wie stark es sagt es schränkt mich ein, es stört mich, es wird wirklich zu einer zusätzlichen Belastung und ich kann auch selber erkennen, dass es vollkommen überzogen ist." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer
So meint Jürgen Hoyer Prüfungsängstliche würden sich oft sehr intensiv vorbereiten und seien dann enttäuscht, weil sie im Nachhinein merken, für die beste Note gar nicht das geleistete Pensum benötigt zu haben.

Was hat Leistungsdruck mit Angst zu tun?

Die Leistungsgesellschaft geht über Arbeit und Ausbildung hinaus, meint Jürgen Hoyer. Dementsprechend hätten immer mehr Menschen das Gefühl in allem perfekt sein zu müssen. 
"Das kann für diejenige die sensibel sind natürlich Probleme machen, weil sie dann nur noch auf ihre Makel geneigt sind zu schauen und sich einfach schlecht fühlen wenn sie sich mit anderen vergleichen. Dieses Schlechtfühlen ist selbstverständlich komplett ungerechtfertigt." - Prof. Dr.Jürgen Hoyer


Was sind Schauplätze der klassischen Sozialen Ängste?

Die Situation, in eine Gruppe hineinzukommen oder fremde attraktive Menschen anzusprechen beängstigt viele. Es gibt aber auch spezifischere Ängste wie die Angst vor dem Telefonieren oder vor anderen zu essen.
"Der Klassiker ist: Ich komme plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und dann verpatz ich was. Und das wird peinlich und die anderen blicken auf mich herab. Das ist im Zentrum." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer

Angst zu verdrängen oder als Vorfreude umzudeuten rät Dr. Prof. Jürgen Hoyer ab. Stattdessen solle man die Angst, zum Beispiel vor einer Rede, anerkennen und sich vor Augen führen, wie toll es sein würde wenn es erstmal gepackt ist. Menschen mit sozialer Angst rät er zu sagen: 
"Und selbst wenn du dich versprichst, und selbst wenn du eine lange 'Kunstpause' machst. Entweder merkt das gar keiner oder die merken's und sehen: oh der ist aber dabei oder aufgeregt und das finden Leute doch eher sympathisch!" - Prof. Dr. Jürgen Hoyer


Was sind Ursachen Sozialer Ängste?

Es gibt immer verschiedene Ursachen, die sich zusammensetzen. Zum Beispiel Traumata, Erziehung und auch eine gewisse Vererbung. 
"Menschen sind eben unterschiedlich sensibel und die Sensibilität - vereinfachend gesagt - die wird natürlich nicht vererbt weil sie schlecht ist, sondern die hat auch Vorteile. Zum Beispiel lernt so ein Nervensystem relativ schnell, wenn irgendwo Schmerzreize sind." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer


Wie können Betroffene damit umgehen?

"Wenn ich mit der Sache weiterkommen will, muss ich mich den Situationen stellen. [...] Aber das sollte man nicht so machen, dass man sich überfordert. Oder denkt, wenn ich das jetzt einmal mache - Augen zu und durch - dann hab ich was gewonnen. Und deswegen ist es teilweise schon richtig zum Psychotherapeuten zu gehen, der einen dann in der richtigen Dosierung in solche Situationen hineinführt." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer


Und wie sieht es aus mit Ängsten und Corona?

Allgemeine Ängste, zum Beispiel die Angst davor, dass etwas schlimmes passiert, man selbst oder ein Familienmitglied krank wird oder Ähnliches, werden durch die Corona-Situation schlimmer. Anders ist es bei sozialen Ängsten. Der Grund dafür ist wahrscheinlich: Situationen, die angstauslösend sind, finden sehr viel weniger statt.
"Das ist natürlich dann so, dass es den Menschen teilweise besser geht, ohne dass sich das zu Grunde liegende Problem wirklich ändern würde." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer

Eine allgemeine soziale Angst, etwa auf ungewohnten Großveranstaltungen in der Zeit nach dem Lockdown, schätzt Jürgen Hoyer als unrealistisch ein. Allerdings könnten sensiblere Mitmenschen ein bisschen länger brauchen, um den Lockdown für sich zu beenden.
"Einzelne, die dazu neigen sich zurückzuziehen - lso quasi immer wieder diesen Impuls brauchen, dass andere sie mitziehen und einladen und so weiter - für die kann das ein bisschen schwierig sein wenn alles wieder möglich ist, dann sind die quasi in Gefahr, dass sie unnötig im Lockdown verharren." - Prof. Dr. Jürgen Hoyer

Das sei laut Jürgen Hoyer allerdings nur eine kleinere Gruppe. Sein Ratschlag: 
"Die sollte man als guter Freund mal anrufen und rausziehen aus ihrer Gruft" - Prof. Dr. Jürgen Hoyer



Hilfe und Anlaufstellen

Wenn es dir gerade akut schlecht geht findest du erste seelische Unterstützung bei der Telefonseelsorge unter 0800 11 10 111. Außerdem gibt es die Möglichkeit zu einem direkten Erfahrungsaustausch mit Betroffenen und Angehörigen, natürlich auch anonym, wenn man das möchte. Das deutschlandweite Info Telefon ist unter der Nummer 0800 33 44 5 33 fast rund um die Uhr zu erreichen.

Zum Thema Depressionen gibt es Hilfe für Betroffene und Angehörige, zum Beispiel auf der Seite der Deutschen Depressionshilfe, auf der man unter anderem einen Selbsttest und zahlreiche Adressen zum Thema Depression findet. Auch die Freunde fürs Leben, können dich bei Depressionen oder destruktiven Gedanken unterstützen

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