Streetwork: Hilfe anbieten statt aufdrängen

Streetwork: Hilfe anbieten statt aufdrängen

Julian Meyer im Interview mit egoFM Sebastian

Wie der Job von Streetworker*innen aussieht und ob ihre Hilfe auf der Straße angenommen wird, erzählt uns Streetworker Julian im Interview.

Seit achteinhalb Jahren ist Julian als Streetworker der Drogenhilfe Schwaben unterwegs auf den Straßen von Augsburg. Wie sehr ihn sein Job belastet und ob es mehr Drogenkonsumräume braucht, darüber spricht er im Interview mit Sebastian.
  • Julian Meyer von der Drogenhilfe Schwaben im Interview
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Foto: Screenshot egoFM

Laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. sind in Deutschland circa 680.000 wohn- oder obdachlos.
Seit der Corona Pandemie sind es vermutlich noch mehr. Unter diesen Menschen sind auch viele Konsument*innen illegaler Drogen. Die niedrigen Hygiene-Standards auf den Straßen machen den Konsum teilweise noch gefährlicher, etwa mit dreckigen Spritzen. Streetworker Julian Meyer von der Drogenhilfe Schwaben hat deshalb in seinem Rucksack immer "sauberes Besteck" dabei.
"Sprich, verschiedene Nadeln hab ich dabei, verschiedene Größen an Spritzen. Also unser Safer Use* Angebot sozusagen." – Julian Meyer


*Safer Use = Richtige Mittel und Wissen, beim Drogenkonsum die körperliche und psychische Gesundheit so gut es geht zu schützen.


Akzeptierende Arbeitshaltung

Meist ist Julian mit einer Kollegin als Zweierteam auf den Straßen Augsburgs unterwegs und sucht gängige Szeneplätze auf, an denen sich häufig Konsument*innen aufhalten. Dabei drückt er keinem die Hilfe aufs Auge. Eher ist seine Arbeit auf der Straße eine "Geh-Struktur"-Arbeitshaltung. Das heißt: Als Streetworker*innen verfolgen die beiden einen akzeptierenden Ansatz, akzeptieren also den Drogenkonsum der Menschen erst einmal. Zudem kämen diejenigen, die etwas brauchen, seien es saubere Nadeln oder Unterstützung bei bürokratischen Angelegenheiten, selbst auf sie zu. Manchmal müsse er aber auch Erste Hilfe leisten oder einen Krankenwagen rufen. Nach vielen Jahren Berufserfahrung hat Julian mittlerweile auch ein Gespür für den Zustand der Leute, die er oft sieht.
"Die Leute, die man oft sieht und besser kennengelernt hat, da sieht man schon, ob‘s denen gut geht oder nicht." – Julian Meyer


Erstes und letztes Glied als Streetworker*in

Zielgruppe seien vor allem junge Erwachsene oder erwachsene Konsument*innen illegaler Drogen. Entweder Erstkonsument*innen, die sich noch nicht an das bestehende Hilfesystem (zum Beispiel Beratungsstellen oder Kontaktläden) angebunden sehen oder diejenigen, die schon alles probiert, aber keine geeignete Lösung gefunden haben:
"Was die Drogenhilfearbeit angeht, sind wir so ein bisschen das erste und gleichzeitig letzte Glied der Kette. Natürlich gibt's viele Menschen ohne festen Wohnsitz […], die man dann auch mal an ihren Plätzen unter den Brücken aufsucht. Zielgruppe [sind aber] definitiv Konsument*innen illegaler Drogen." – Julian Meyer

Belastung und Erfolgserlebnisse als Streetworker*in

Auf den Straßen hat Julian in den letzten Jahren schon viele Schicksale miterlebt. Viele Lebensgeschichten, die ihm die Menschen erzählt haben, seien ziemlich tragisch gewesen. Viele hätten in ihrer Kindheit Missbrauchs- oder Gewalterfahrung machen müssen. Trotzdem versucht Julian, in seiner Freizeit abzuschalten und seine Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Ein guter Freundeskreis, Hobbys und ein tolles Team helfen ihm dabei, dass ihn der Alltag als Streetworker nicht zu sehr belastet, sagt Julian. Und neben der Belastung sind es auch die kleinen Erfolge, die seinen Job ausmachen.

"Die Wunschvorstellung, dass man mit jemandem eine gute Arbeitsbeziehung aufbaut und die Leute zu einem drogenfreien Leben bringt mit Therapie und die finden einen Job und eine Wohnung. Das kommt in dem Bereich, in dem wir tätig sind, eher selten vor. Die Erfolge sind vielleicht eher zu messen, dass man die Menschen dazu bewegt, sich noch mal Gedanken zu machen, ob ihr Konsummuster vielleicht zu riskant ist. Schöne Arbeitserfolge sind auch […] wenn man einfach merkt, die Menschen vertrauen einem." – Julian Meyer



Kernmaßnahmen: Von Drogenkonsumräumen und Naloxon

In Deutschland gibt es 24 Drogenkonsumräume. Das sind Orte, an denen Menschen unter medizinischer Aufsicht ihre mitgebrachten Drogen konsumieren und bei einer Überdosis schnell Hilfe bekommen können. Die europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht zählt sie zu wichtigen Kernmaßnahmen. Von diesen 24 befindet sich in Bayern kein einziger. Julian und die Drogenhilfe Schwaben finden aber, sie wären längst überfällig.

Im Jahr 2020 wurden laut Drogenbeauftragten der Bundesregierung in 1.581 drogenbedingte Todesfälle in Deutschland registriert. Mit 248 Toten lag Bayern dabei hinter Nordrhein-Westfalen (401 Tote).

Es sei für die Politik vielleicht ein unschönes Thema, meint Julian. Ein Argument gegen Drogenkonsumräume sei auch gewesen, keine rechtsfreien Räume erschaffen zu wollen. Für die Abwehrhaltung der Politik gegenüber Drogenkonsumräumen hat Julian kein Verständnis. Vor allem, weil alle Expert*innen sicher seien, dass sie ein wichtiger Schritt wären.

Ebenfalls eine Möglichkeit, tödliche Überdosierungen zu verhindern ist Naloxon, ein Gegengift zu Opiatüberdosen, das seit 2018 Jahren in Deutschland als Nasenspray zugelassen ist.

Meist war es laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung der Konsum von Opiaten (allein oder in Verbindung mit anderen Stoffen), der als Todesursache der Konsument*innen illegaler Drogen galt. In Bayern gab deshalb das Naloxon Projekt, an dem sich auch die Drogenhilfe Schwaben beteiligt hat. Julian erzählt, dass es aufgebaut war wie ein Erste Hilfe Kurs, der jedoch auf Drogennotfälle abzielt. Teilnehmende lernten darin die stabile Seitenlage, richtige Beatmung und Herzdruckmassagen. Anschließend bekamen sie ein Erste Hilfe Kit mit Naloxon an die Hand. Das Projekt ist mittlerweile vorbei, die Drogenhilfe Schwaben plädiert aber dafür, es als festen Bestandteil in das Hilfesystem zu integrieren.
"Der Konsumraum und das Naloxonprojekt müssen Hand in Hand gehen. Das sind zwei wichtige Maßnahmen." – Julian Meyer

 

Kontaktladen als Schutzraum

Ein weiteres Angebot der Drogenhilfe Schwaben ist der Streetwork-Kontaktladen KiZ in Augsburg. Er befindet sich in der Innenstadt und fungiert als Café, als Rückzugsraum und als Schutzort vor dem harten Alltag, den viele Drogenkonsument*innen in der Szene gewohnt sind. Julian berichtet, dass seine Kolleg*innen dort vor Ort als Ansprechpartner*innen zur Verfügung stehen und zum Beispiel beim Antrag von Arbeitslosengeld behilflich sind. Die Pandemie hat den Betrieb des Kontaktladens zeitweise lahmgelegt. Aufgrund der Beschränkungen musste er zwischenzeitlich schließen. Julian und seine Kolleg*innen mussten sich eine andere Lösung überlegen.
"Wir haben Essenspakete geschnürt […] und gekuckt, dass die Leute was zu essen haben und jemanden zu reden. Also Beratung und Spritzentausch haben wir aufrecht erhalten und haben uns um Verpflegung gekümmert, weil dieser Cafébetrieb unter den Umständen halt nicht möglich war." – Julian Meyer


Abenteuer und keine Langeweile

Als Streetworker ist Julian Berater, Vertrauensperson, medizinischer Helfer und wichtiger Ansprechpartner für Drogenkonsument*innen und/oder obdachlose Menschen. Außerdem hat er auch die Chance, auf der Straße mit Passanten zu sprechen, und kann versuchen, Verständnis für die Menschen hervorzurufen. Ein selbstbestimmter Job mit Verantwortung und Herausforderung. Julian ist gerne Streetworker.

"Es ist immer ein bisschen ein Gefühl von Abenteuer. Man weiß nie, was einen erwartet, man weiß nie, wie die Stimmung ist, ob man überhaupt jemanden trifft. Es wird einfach nicht langweilig, das schätz ich einfach sehr. Deswegen: Ja, ich geh gern auf die Straße." – Julian Meyer




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