Sexualisierte Gewalt wird noch immer nur selten zur Anzeige gebracht. Das liegt wesentlich auch an einer jahrzehntelangen Tradition des Victim Blamings.
Was ist Victim Blaming?
Der Begriff Victim Blaming beschreibt eine Strategie der klassischen Täter*innen-Opfer-Umkehr, bei der die Verantwortung für einen Übergriff teils oder komplett den Betroffenen zugeschrieben wird. Das erleben zum Beispiel immer wieder Opfer von Gewalt, Mobbing, Antisemitismus und Rassismus - ganz besonders oft kommt es zu Victim Blaming allerdings bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Immer wieder wird den Opfern eine (Mit)Schuld an Übergriffen gegeben und unterstellt, sie hätten die Tat durch ihr eigenes Verhalten provoziert. Das hat nicht nur traumatische Folgen für die Betroffenen, sondern tiefgreifende Konsequenzen für uns und unsere Gesellschaft.Da es um Victim Blaming im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gegen Erwachsene geht und diese in nahezu allen Fällen (über 90 Prozent, bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen sogar vermutlich 99 Prozent) von Männern verübt wird, ist im Folgenden nur von "Tätern" die Rede.
Sexualisierte Gewalt ist immer noch weit verbreitet.
In Deutschland haben zwei von drei Frauen bereits sexuelle Belästigung erlebt und jede siebte Frau wurde sogar Opfer schwerer sexualisierter Gewalt, in anderen Ländern sind die Zahlen noch dramatischer. Auch Männer und nonbinäre Personen werden Opfer von sexualisierter Gewalt, allerdings sehr viel seltener. Sexualisierte Gewalt umfasst jede Handlung mit sexuellem Bezug, die ohne Einwilligung oder Einwilligungsfähigkeit (zum Beispiel bei Menschen mit kognitiver Störung, Kindern oder stark berauschten und/oder bewusstlosen Menschen) ausgeübt wird und ist Ausdruck patriarchaler Strukturen. Dazu zählt zum Beispiel sexualisierte Belästigung (dies können Blicke, Worte, Gesten, Berührungen, Anzüglichkeiten und Ähnliches sein), sexuelle Nötigung und Vergewaltigung.Zur Anzeige gebracht wird davon allerdings nur ein Bruchteil, was zu großen Teilen an einer jahrtausendlangen Tradition der Täter-Opfer-Umkehr liegt.
Verbreitet wurde der Begriff erstmals in den 1970er-Jahren in den USA.
Seitdem bezeichnet Victim Blaming eine Strategie der Strafverteidigung - vor allem in Vergewaltigungsprozessen - die sich strafmildernd auf die Täter auswirkt, weil den Opfern aufgrund von "provozierendem Verhalten" eine (Mit)Schuld unterstellt wird. Dabei wird die Aufmerksamkeit von den Angeklagten gelenkt und die Verantwortung abgewälzt. Aus Tätern werden so "Opfer der Provokation" gemacht. Auch in Deutschland haben Opfer sexualisierter Gewalt - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gerichtssäle - stark mit Victim Blaming zu kämpfen. Längst ist es nicht mehr nur eine Strategie der Strafverteidigung, sondern ein gesellschaftliches Denkmuster und ein tief verankertes Element der Rape Culture.Vor allem Frauen müssen sich nach sexualisierten Übergriffen häufig als aller erstes rechtfertigen. Schnell geht es darum, was sie getragen haben, warum sie in dieser Gegend waren, ob sie betrunken waren, welche Klamotten oder gar Unterwäsche sie anhatten oder warum sie ihren Drink aus den Augen gelassen haben. Aber nichts davon rechtfertigt sexualisierte Gewalt, denn:
Opfer von sexualisierter Gewalt sind niemals schuld!
Ja, Selbstschutz und Selbstverteidigung sind wichtig, aber es sollte nicht zwingend notwendig sein, mit Pfefferspray und Schlüssel in der Hand nach Hause zu laufen. Denn dann passiert im Umkehrschluss genau das: Schuldzuweisung. "Sie hatte kein Pfefferspray? War alleine unterwegs? Hatte ein kurzes Kleid an? Na ja, dann...selbst schuld." Aber nein, das ist der springende Punkt und deswegen noch mal so wichtig: Opfer von sexualisierter Gewalt sind niemals schuld. Unter keinen Umständen.Dieser Gedanke, sexualisierte Gewalt ginge von zwei Seiten aus, ist tief in unseren Köpfen verankert.
Frauen sollten sich besser nicht zu freizügig kleiden, immer Pfefferspray dabei haben, das Getränk niemals aus den Augen lassen - ist das wirklich eine Kalkulation und Minimierung von Risiken, die man als Frau eben in Kauf und einfach hinnehmen muss? Nein.Denn selbst wenn Frauen all das tun, ändert das erstens nichts am grundlegenden Problem und ist zweitens ein riesiger Einschnitt in die Gleichberechtigung. Denn das bedeutet, viele Frauen können sich nicht so kleiden und verhalten, wie sie es wollen, aus Angst, sie würden damit sexualisierte Gewalt provozieren und ihnen würde anschließend sogar noch eine Mitschuld zugesprochen werden.
Ja, es gibt wie bereits erwähnt, auch männliche Opfer sexualisierter Gewalt (und auch diese geht in den aller meisten Fällen von Männern aus), dabei spielt die Frage nach dem Outfit öder ähnlichem allerdings nur selten eine Rolle. Wird ein Mann sexuell belästigt, muss er sich kaum rechtfertigen, warum er ein so enges T-Shirt getragen hat.
Victim Blaming führt allerdings nicht nur dazu, dass potentielle Opfer ihr Verhalten anpassen, sondern auch dazu, dass Betroffene Angst haben, mit Menschen über das Geschehene zu sprechen und selten Anzeige erstatten. Schätzungen zufolge werden beispielsweise nur 15 Prozent der Vergewaltigungen angezeigt - auch aus Angst davor, sich selbst rechtfertigen und im schlimmsten Fall miterleben zu müssen, wie Täter freigesprochen werden. Das passierte in der Vergangenheit immer wieder und hat bereits zu diversen Aktionen im Netz geführt, beispielsweise unter den Hashtags #ThisIsNotConsent oder #DoublePeine. Nur wenn sich Opfer sexualisierter Gewalt sicher sein können, kein Victim Blaming erfahren zu müssen, werden auch mehr Betroffene den Mut finden, darüber zu sprechen und die Übergriffe zur Anzeige zu bringen.
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