Clairo - Immunity

Clairo - Immunity

Der Lieblingstonträger der Woche

Die YouTube-Sensation gibt auf ihrem Debütalbum tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt

An besonders langweiligen Tagen kommt es doch gerne mal vor, dass man die eigenen Social Media Profile bis tief in die Vergangenheit durchscrollt. Und da ist der ein oder andere Facepalm vorprogrammiert:


Beim Lesen von geistreichen Weisheiten, die man als naiver Teenager in die Welt gesetzt hat, können schnell dezente Schamgefühle entstehen. Damals war einem meistens noch nicht klar, dass diese Gedankenergüsse irgendwie doch ein bisschen öffentlicher sind als gedacht. Diese Erfahrung musste auch Claire Cottrill ziemlich schmerzhaft machen, als ihre sehr persönlichen ersten Songversuche plötzlich im großen Rampenlicht begutachtet wurden.

Zum Glück hat sich Claire, die sich mittlerweile Clairo nennt, von diesen Erlebnissen nicht zu sehr aus der Bahn werfen lassen, denn so können wir jetzt ihr unglaublich ehrliches und faszinierend klingendes Debütalbum genießen.

Plötzlich liest jeder dein Tagebuch

Für uns sind Soundcloud, Bandcamp und Youtube schnelle Wege, um an Musik zu kommen - für Clairo waren die Plattformen so etwas wie ein Tagebuch. Ihre ersten selbstgeschriebenen Songs landeten alle dort. Klar waren die auch irgendwie öffentlich zugänglich, aber zwischen den unzähligen anderen Künstler*innen erregten sie auch kein zuuu großes Aufsehen. Bis Clairos Song "Pretty Girl", mitsamt schnell zusammengezimmertem Video, ohne Vorwarnung zum viralen Hit mutierte.

Anstatt sich unter den ganzen Klicks sonnen zu können, musste Clairo schnell die Schattenseiten des plötzlichen Ruhms kennenlernen: 

Collegefreunde wurden plötzlich zu Stalkern, Labels fingen an mit aggressiven Taktiken um das neue Talent zu werben, Internettrolle warfen ihr vor, nur ein Industrieprodukt mit zusammenkonstruierter Hintergrundstory zu sein.


Die Songs, die Clairo eigentlich nur für sich selbst geschrieben hatte, waren plötzlich das Gesprächsthema der Musikszene. Für die damalige Teenagerin eine fast schon traumatisierende Erfahrung, schließlich hat Clairo immer schon über sehr persönliche Dinge geschrieben - und war bei Weitem nicht auf jeden frühen Songversuch stolz. Aber Clairo hat sich durchgebissen und es geschafft, ihr eigenes Tempo für die rasante Reise durch die Musiklandschaft zu finden.


Zimmerlautstärke statt Stadiumpop

Nach ihrem viralen Erfolg konnte Clairo zwar schon mit Megastars wie Katy Perry und Dua Lipa auf Tour gehen. Die Bezugspunkte zur großen Popwelt sind also durchaus vorhanden. Mit ihrem Debüt Immunity zielt Clairo aber erst einmal in eine andere Richtung: Ein paar poppige Momente bietet die Platte schon, aber sonst verlässt sich Clairo noch sehr auf die Lo-Fi Klangästhetik, in der sie großgeworden ist.

Auf einen einzigen Stil hat sie sich (noch) nicht wirklich festgelegt: Der Song "Sofia" erinnert mit seinen kratzigen Gitarren an The Strokes, "I Wouldn’t Ask You" spielt mit Gospel-Einflüssen und die Vorabsingle "Bags" klingt nach Phoebe Bridgers' melancholischem Indie Rock. Aber auch wenn jeder Song ein bisschen anders daherkommt, bleibt Immunity eine zusammenhängende Platte: Nichts ist zu wirr, jedes Klangexperiment geht sanft in die nächste Idee über. Man hört deutlich, wie gut sich Clairo mit ihrem Co-Produzenten, dem früheren Vampire Weekend-Gitarristen Rostam, bei den Arbeiten an der Platte verstanden hat.

Ähnlich beeindruckend wie die klangliche Vielfalt von Immunity sind Clairos schonungslos ehrliche Texte:


Man könnte meinen, dass sich Clairo nach den turbulenten Anfangszeiten im Internet eher zurückziehen würde. Tatsächlich hat alles dazu geführt, dass Clairo sich jetzt erst recht traut ihre persönlichsten Themen anzusprechen. Schon der Opener "Alewife" handelt von einem Selbstmordversuch und wie eine Freundin ihn gerade noch rechtzeitig verhindern konnte. "Sofia" rekapituliert, wie sich Clairo über ihre Bisexualität klar geworden ist, und "Bags" beschreibt, wie sie langsam aber sicher mit ihrer Identität ins Reine kommt.

Damit auch jeder klar versteht über was sie singt, stellt sie zu fast jedem ihrer Songs eine lange Erklärung mit ins Netz. So konsequente Ehrlichkeit ist in diesem Alter ziemlich beeindruckend. Klar ist es möglich, dass Clairo sich irgendwann doch noch zur großen Karriere durchringt und statt persönlichen Songs lieber glattproduzierte Nebenbeimusik schreiben wird. Mit ihrem Debütalbum hat sie aber auf jeden Fall schon einmal ihr riesiges Talent und ein kräftig schlagendes Indie-Herz bewiesen.



Tracklist: Clairo - Immunity

01 Alewife
02 Impossible
03 Closer To You
04 North
05 Bags
06 Softly
07 Sofia
08 White Flag
09 Feel Something
10 Sinking
11 I Wouldn't Ask You

Immunity ist am 02. August 2019 auf Fader erschienen.

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