Wer dieses Album genießen will, muss leiden. Aber es lohnt sich immens.
Julien Baker bei egoFM
Der Lieblingstonträger der Woche: Julien Baker - Little Oblivions
Julien Baker zu Gast bei Max: Das Interview zum Nachhören
Wer tut sich das denn freiwillig an?
So eine Frage bekommt man öfter gestellt, wenn man auf Musik von Daughter, Phoebe Bridgers, Lana Del Rey oder vergleichbar düsteres abfährt. Diese Künstler*innen sind musikalisch zwar über fast jeden Zweifel erhaben, aber sie können natürlich auch jede noch so positive Stimmung in den Keller ziehen.Julien Baker setzt in dieser Hinsicht fast schon neue Maßstäbe: Die Sängerin und Gitarristin zaubert mit gleichzeitig sanft und doch kraftvoller Stimme schonungslos ehrliche Bilder von Niedergeschlagenheit und Schwermut - ihre ersten beiden Alben waren minimalistisch, wunderschön und doch qualvoll bedrückend. Mit Little Oblivions stellt Julien jetzt ihr drittes Album vor – und die Platte geht erstaunlich viele neue Wege.
Aber die wichtigsten Dinge sind gleich geblieben: Das Album ist genauso großartig wie unfassbar traurig.
Von der Supergroup zur Band
Julien Baker verschwendet keine Zeit. Den Auftakt zu Little Oblivions liefert eine verzerrte Orgel und "Hardline" zeigt gleich welche neue Richtung eingeschlagen wird: Statt wie bei Sprained Ankle und Turn Out The Lights nur mit Klavier, Gitarre und ihrer Stimme zu arbeiten, setzt sie jetzt auf einen vollen Bandsound.Ein ziemlicher Einschnitt, aber nach gemeinsamen Songs mit The National und natürlich ihrer Supergroup Boygenius war schon absehbar, dass ihre Stimme auch ideal zur Bandleaderin taugt. Und die neuen Instrumentals entwickeln auch schnell ihre eigene Faszination:
Wenn Juliens aufbrausender Schrei von wirbelnden Gitarren und Schlagzeugwänden aufgefangen werden, fühlt sich das fast schon wie Erlösung an.
Julien Bakers Stärke waren immer ihr schonungslose Direktheit
Und auch wenn sich Little Oblivions nicht mehr so anhört als säße die Sängerin mit ihrer Gitarre direkt im Zimmer der Hörer*innen ist davon nichts verloren gegangen. Der neue Bandsound macht ihre Songs nur sogar ein wenig zugänglicher, denn der pure Schmerz der Vorgänger weicht einer sanften Melancholie. Man kann sich leicht ohne böse Vorahnung in den Gitarrenarrangements verlieren, ohne zu merken, dass Juliens Texte einem gleich das Herz wie mit rostigen Gitarrensaiten zerfetzen.Denn ja: Es lässt sich nicht drum herumreden – Little Oblivions ist ungefähr so fröhlich, wie der verkaterte Tag nach einer sehr schmutzigen Trennung, die zu allem Überfluss noch der ganze Freundeskreis mitverfolgen durfte.
Juliens großes Thema ist dieses Mal die Sucht
Nicht nur nach Drogen, sondern auch nach dem Glauben und nach Mitmenschen. Besonders eindrucksvoll wird in "Faith Healer" alles zusammengebracht - Der Wunderheiler wandelt sich darin zum listigen Quacksalber: Julien weiß zwar ganz genau, dass die versprochene Linderung nur flüchtige Schwindelei ist – und trotzdem würde sie alles dafür geben genau diese noch einmal zu spüren.Ihr kompliziertes Verhältnis zu ihrem Glauben – Julien glaubt an einen Gott, dessen Anhänger*innen ihr für ihre queere Identität ewiges Höllenfeuer prophezeien – bringt immer wieder eine extra Portion Verzweiflung in die Texte. Und auch wenn die Sängerin immer neue wirkungsvolle und genauso schmerzhafte Metaphern für ihren Kampf gegen, und ihr Leben mit Depressionen findet, sind es manchmal ganz nüchterne Alltagsbeobachtungen, die richtig schwer zu ertragen sind. Zum Beispiel wie in "Heatwave" eine persönliche Katastrophe des einen, zur unbequemen Nichtigkeit des anderen wird. Oder wie der äußerst minimalistische "Song in E" ein schmerzhaft ehrliches Bild von Alkoholsucht und toxischen Beziehungen zeichnet.
Kein Aussicht auf ein Happy End
Trotz aller Düsterheit hat es sogar der Vorgänger Turn Out The Lights geschafft, mit einem Hauch von Hoffnung zu Enden. Little Oblivions geht einen anderen Weg: Schon "Repeat" deutet einen immer wiederkehrenden, niemals endenden Albtraum an. Und "Ziptie" stellt eine letzte verzweifelte Frage nach dem Sinn der Menschlichen Existenz in den Raum, bevor der Song abrupt endet und eine Antwort schuldig bleibt.Besteht Little Oblivions also nur aus reiner Tristesse? Nicht ganz: Die aufbrausenden Instrumentalteile fühlen sich dann doch wie ein wortloses, aber energisches Aufbäumen gegen die große Düsterheit an. Sie ergeben ein meisterhaft düsteres Album, dass man wahrscheinlich nur in der richtigen Stimmung genießen, aber auf gar keinen Fall verpassen sollte:
Little Oblivions kann einem zwar den Tag so richtig verdüstern, aber – und das ist die ganz große Leistung der Platte – sie zeigt einem in den dunkelsten Stunden, dass man mit seinem Schmerz nicht ganz alleine ist.
Tracklist: Julien Baker - Little Oblivions
01 Hardline02 Heatwave
03 Faith Healer
04 Relative Fiction
05 Crying Wolf
06 Bloodshot
07 Ringside
08 Favor
09 Song in E
10 Repeat
11 Highlight Reel
12 Ziptie
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