Am Freitag sind zwei Dinge passiert: In Deutschland wurde Paragraf 219a gestrichen, in den USA das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. Diese Gleichzeitigkeit schmerzt.
Menschenrechte sind fragil - die von Frauen ganz besonders
In Deutschland dürfen Ärzt*innen seit Freitag darüber informieren, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und wie diese durchgeführt werden – Paragraf 219a, das Informationsverbot für Abtreibungen, wurde endlich abgeschafft. Nahezu gleichzeitig hat der Supreme Court in den USA das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche aufgehoben und die Bundesstaaten dürfen jetzt selbst entscheiden, ob Abtreibungen legal sind oder nicht. In ungefähr der Hälfte der Staaten werden vermutlich (und sind teilweise bereits) Schwangerschaftsabbrüche verboten beziehungsweise stark eingeschränkt – teils auch nach Vergewaltigungen, selbst wenn diese innerhalb der Familie stattfanden. Einige Hintergrundinfos zu der Grundsatzentscheidung "Roe vs. Wade", auf dem das Abtreibungsgesetz der USA bisher basierte, findest du hier. Dass beide Entwicklungen an ein und demselben Tag stattfanden, verdeutlicht die Gleichzeitigkeit von Fort- und Rückschritten für Frauen weltweit und die Fragilität von erkämpften Rechten im Allgemeinen.
Das zeigt sich nicht nur in dem Urteil des Supreme Courts: Die Rechte von Frauen und Mädchen - aber auch die Rechte von queeren Menschen und anderen marginalisierten Gruppen - werden auch in vielen anderen Ländern immer wieder neu beschnitten, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Afghanistan ist da ein besonders brutales Beispiel, aber auch der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention 2019, die sexualisierte Gewalt im Äthiopienkrieg oder im Ukrainekrieg, der Umgang mit Uigur*innen in China oder die Folgen der rechtskonservativen Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent machen das beispielsweise schmerzhaft deutlich.Eigentlich verständlich also, dass ich immer wieder auch darüber nachdenke, wie fragil mein eigenes Leben und meine eigenen Rechte sind und ich manchmal Angst habe, eines Tages selbst in einer Handmaid's Tale-ähnlichen Dystopie aufzuwachen. Und ja, ich weiß, wie sicher und privilegiert ich in Deutschland bin und dass meine Angst davor, dass sich das irgendwann nochmal ändert, niemanden weiterbringt - trotzdem beziehe ich diese weltweiten Entwicklungen auch auf mein eigenes Leben. Immerhin passiert nichts davon in einem abgeschotteten Raum, sondern beeinflusst sich gegenseitig. Die weltweiten Rückschritte kann und darf ich also nicht ignorieren, deswegen stellt sich zwangsläufig aber auch die Frage:
Kann ich mich überhaupt über den Fortschritt in Deutschland freuen?
Am Freitag fiel mir das mehr als schwer, aber heute sage ich: Ja. Denn was vor drei Tagen passiert ist, ist leider nur ein anschauliches Beispiel dafür, dass Rück- und Fortschritt, genauso wie Leid und Freude, immer gleichzeitig passieren. Wenn es mir gut geht, geht es unzähligen Menschen im selben Augenblick unvorstellbar schlecht. Und so schwer mir das natürlich fällt, müssen wir genau das immer und immer wieder ausblenden. Denn ansonsten sind wir gefangen in einem Gefühl der Ohnmacht und der Handlungsunfähigkeit. Also ja, wir dürfen und müssen unsere Fortschritte feiern - für die Streichung des Paragrafen 219a haben viele Menschen in den letzten Jahren hart gekämpft und es wird das Leben von vielen Frauen in Deutschland erleichtern. Das muss gewürdigt werden und kann einen positiven Impact auf andere Entwicklungen haben.Trotzdem wirft all das in mir die Frage auf, wie meine eigenen Rechte - aber auch die Rechte von anderen - dauerhaft gesichert werden können. Eine ultimative Antwort habe ich darauf natürlich nicht, trotzdem gibt es, denke ich, mindestens zwei Dinge, die wir aus diesem historischen Tag und dieser schmerzhaften Simultaneität mitnehmen können:
Erstens: Es ist immer und überall wichtig, sich für Progress und Awareness einzusetzen.
Denn Menschenrechte - und ganz besonders die Rechte von Frauen - sind fragil und müssen jeden Tag aufs Neue geschützt und gestärkt werden - und das beginnt im Kleinen. Das bedeutet zum Beispiel: Lieber einmal mehr etwas sagen, wenn die eigene Tante auf Facebook Fake News über Schwangerschaftsabbrüche verbreitet, ein Bekannter rassistische "Witze" erzählt oder ein Arbeitskollege homophobe Sprüche klopft. Denn wenn viele in solchen Momenten laut werden, können viele Menschen erreicht, die ein oder anderen Augen geöffnet und im Idealfall Fortschritte in Gang gesetzt werden.Und weil ich in den letzten Tagen so erschreckend wenig Männer (ehrlich gesagt nur einen) in meiner Timeline hatte, die sich zu den Entwicklungen in den USA geäußert haben, ist es auch wichtig zu sagen:
Das gilt zweitens nicht nur für Betroffene!
Nicht nur Frauen müssen sich für die Rechte von Frauen einsetzen, nicht nur Juden und Jüdinnen gegen Antisemitismus stark machen, nicht nur Schwarze Menschen gegen Rassismus kämpfen, nicht nur Menschen mit Behinderung für Inklusion einstehen, nicht nur queere Menschen für Gleichberechtigung engagieren,... Das müssen wir alle gemeinsam machen - und am besten nicht nur zu einzelnen Aktionstagen oder -wochen, sondern so oft wie möglich.Denn unser eigener Fortschritt soll eben auch zu einem Fortschritt von anderen führen - was definitiv leichter gesagt ist, als getan (mehr zum Thema Intersektionalität und Feminismus kannst du hier lesen). Allerdings sind viele von uns in der Lage, sich zu informieren, aktiv zu helfen, zu demonstrieren oder zu spenden und sollten diese Chance auch nutzen. Möglichkeiten, wie du dich zum Beispiel für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in den USA einsetzen kannst, findest du hier. Einen Artikel für Hilfe in Afghanistan gibt es hier und hier haben wir außerdem Infos gesammelt, wie du marginalisierten Gruppen im Ukrainekrieg helfen kannst. Die Möglichkeiten zu helfen sind - genau wie die Ungerechtigkeiten in unserer Welt - nahezu grenzenlos.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Wir müssen irgendwie den Balanceakt schaffen, die eigenen Fortschritte zu feiern, ohne die gleichzeitigen Rückschritte in anderen Teilen der Welt aus den Augen zu verlieren.
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