Fehlende Inklusion beim Thema Umweltschutz

Fehlende Inklusion beim Thema Umweltschutz

Wir müssen endlich anfangen, an alle zu denken

Von  Miriam Fischer
Für viele ist ein Plastikstrohhalm nicht mehr als eine fancy Art, Cocktails zu trinken - für andere ist er allerdings unverzichtbar.


Seit dem 3. Juli gelten die EU-Richtlinie gegen Einwegplastik, darüber haben wir bereits hier ausführlicher berichtet.


Seitdem dürfen unter anderem keine Kunststoff-Trinkhalme mehr verkauft werden. "Wurde auch echt langsam Zeit" denkst du vielleicht im ersten Moment - das haben wir auch. Tatsächlich muss die Sache aber etwas differenzierter betrachtet werden. 

Fehlende Inklusion beim Thema Umweltschutz

Bereits 2018 veröffentlichte der Aktivist Raul Krauthausen auf seinem Blog einen kritischen Artikel, in dem er auf die Probleme des Verbots von Plastik-Trinkhalmen eingeht. Abgesehen davon, dass Krauthausen - und mit diesem Argument ist er nicht alleine - darauf aufmerksam macht, dass die Trinkhalme nur einen geringen Teil des Plastikmülls ausmachen, der jährlich in unseren Ozeanen landet, gibt es noch ein weiteres Problem:

"Außerdem lässt ein Verbot vollkommen außer Acht, dass Strohhalme für manche Leute nicht nur Schnickschnack im Cocktailglas sind, sondern lebenserleichternde und notwendige Alltagshelfer." - Raul Krauthausen


Menschen mit bestimmten Behinderungen sind auf Plastik-Trinkhalme angewiesen

Wer zum Beispiel seine Arme nicht bewegen kann, zittrige Hände hat, vom Hals an gelähmt ist oder Spastiken hat, ist auf einen Trinkhalm angewiesen, um selbstständig zu trinken. Das heißt, ein einfacher Trinkhalm bedeutet für manche Menschen schlicht Selbstständigkeit. Das ist erst mal ein Fakt, den wir sehen, anerkennen und in unsere Überlegungen mit einfließen lassen müssen. Denn viel zu oft wird in allen möglichen Bereichen des Lebens nicht an Menschen mit Behinderung gedacht. 

Trinkhalme schön und gut  - aber muss es denn Plastik sein?


Wir haben doch inzwischen Trinkhalme aus Glas, Metall, Bambus, Silikon und Papier - warum braucht es da Plastik-Trinkhalme? Kurz gesagt: Weil die umweltfreundlichen Alternativen für viele Menschen mit Behinderung eben keine Alternativen sind.

Trinkhalme aus Glas und Metall sind nicht biegsam, wodurch sie ein großes Verletzungsrisiko aufweisen. Wer zum Beispiel eine Spastik hat, würde sich damit den Mund aufschneiden, Zähne ausbeißen oder einen Trinkhalm aus Glas schlimmstenfalls zerbrechen. Auch Bambus-Trinkhalme sind nicht flexibel und außerdem um einiges teurer. Silikon ist zwar biegsam, wird aber schnell unhygienisch und was mit Papier-Trinkhalmen passiert, haben wir wahrscheinlich alle schon gemerkt: Sie lösen sich nach einer Zeit auf und können dann verschluckt werden. Ähnliche Probleme weisen auch andere Alternativen wie Nudeln oder Acryl auf.

Hier noch mal eine Übersicht:



Unterm Strich ist ein Plastik-Strohhalm für Menschen mit Behinderung oft die beste Lösung. 

"Plastikhalme sind immer noch die beste Lösung. Sie sind günstig, hygienisch, mehrfach verwendbar, sie haben – im Idealfall – einen Knick, bergen kein Verletzungsrisiko und lassen sich mit den Zähnen problemlos festhalten." Raul Krauthausen 

Es gibt den Kompromissvorschlag, dass Plastik-Trinkhalme in Restaurants zwar grundsätzlich verboten sind, auf Nachfrage aber herausgegeben werden, falls man sie benötigt. Das wäre allerdings ein Kompromiss, bei dem Menschen mit Behinderung - mal wieder - in einer Position sind, in der sie aktiv nach einer "Sonderbehandlung" fragen müssen, was einige Betroffene für den falschen Ansatz halten. Stattdessen könnte man aber bei einem Restaurant- oder Barbesuch grundsätzlich alle Gäst*innen fragen, ob sie einen Plastik-Trinkhalm benötigen, schlägt Raul Krauthausen vor. 

An dieser Stelle muss aber auch gesagt werden, dass es nicht DEN EINEN Menschen mit Behinderung gibt und deswegen auch nicht verallgemeinert werden kann und sollte. Es gibt natürlich auch Menschen mit Behinderung, die gerne auf umweltfreundlichere Alternativen zurückgreifen (können), aus Schnabeltassen trinken oder kein Problem damit haben, im Restaurant nach einem Trinkhalm zu fragen. Vielmehr geht es um folgendes:


Wir sehen die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung oft nicht 

Plastik-Trinkhalme sind nicht das einzige Problem. Immer wieder gehen auf Social Media solche und ähnliche Postings viral:


Egal ob es dabei um Umweltschutz geht oder vermeintlich "unnötige" Gadgets - online wird sich schnell über alles aufgeregt und lustig gemacht, was für Menschen ohne Behinderung sinnlos erscheint:

@khaby.lame

Make it simple but Significant 😅😄#LearnFromKhabi #ImparaConTikTok #LearnWithTikTok

♬ suono originale - Khabane lame

Es ist aber nun mal so: Ein solcher Dosenöffner kann für Menschen mit Behinderung essenziell sein und ja, vorgeschälte Orangen in Plastikverpackung scheinen für viele auf den ersten Blick eine unnötige Umweltsünde zu sein - für andere aber ist es in manchen Situationen die einzige Möglichkeit, frisches Obst zu essen.

Und natürlich darf man Dingen auch mit Humor begegnen und der TikTok-Kanal von @khaby.lame ist sicher nicht bewusst behindertenfeindlich - aber die Beispiele zeigen eben deutlich, dass die breite Gesellschaft oft gar nicht weiß, vor welchen Herausforderungen Menschen mit Behinderung immer wieder stehen. Und das betrifft eben auch das Thema Umweltschutz und die Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang getroffen werden.

Wir brauchen eine inklusivere Gesellschaft

Sicher gibt es auch Menschen mit Behinderung, die die Strohhalm-Debatte unnötig finden, solange sie immer noch täglich vor größeren Problemen stehen. Aber das Verbot von Plastik-Trinkhalmen legt eben genau dieses grundsätzliche Problem offen - dass Menschen mit Behinderung immer noch mit Ungleichbehandlung und Diskriminierung zu kämpfen haben. 

Wir sollten uns also endlich angewöhnen, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln - und vor allem aus einem inklusiveren Blickwinkel - zu betrachten. Dafür müssen wir mit Menschen mit Behinderung ins Gespräch kommen und ihre Herausforderungen und Probleme wahrnehmen und bei Entscheidungen mit einbeziehen. Auch beim Thema Umweltschutz. 

"Wer bei diesem Thema einmal mehr als Randgruppe behandelt und vollkommen außer Acht gelassen wird, sind die Menschen mit Behinderung. Sie wollen ihren Cocktail nicht mit einem Strohhalm schlürfen, weil sie Meeresschildkröten hassen. Sie sind darauf angewiesen und wollen ein selbstbestimmtes Mitglied dieser Gesellschaft sein. Diesen Aspekt sollte man, bei aller Emotionalität der Debatte, nicht außer Acht lassen." - Raul Krauthausen


Denn wenn wir unseren Planeten gemeinsam retten wollen, müssen wir auch endlich anfangen, an alle zu denken.





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