Hikikomori: Ein Leben in Isolation

Hikikomori: Ein Leben in Isolation

Evelyn Schulz im Interview mit egoFM Max

Was es bedeutet, Hikikomori zu sein und wie das mit der japanischen Gesellschaft zusammenhängt, weiß Japanologie-Professorin Evelyn Schulz.


Abkapseln von Welt und Gesellschaft

Stell dir mal vor, du beschließt eines Tages, einfach nicht mehr rauszugehen. Allerdings nicht wegen Corona, sondern um dich von der Gesellschaft und der "Welt da draußen" abzukapseln. Genau das machen die sogenannten Hikikomori (ひきこもり) in Japan. Das Wort bedeutet wörtlich übersetzt Rückzug oder der*die Zurückgezogene. Circa eine Millionen Hikikomori gibt es laut Schätzungen des japanischen Arbeitsministeriums. Als Hikikomori gilt man dann, wenn man mindestens ein halbes Jahr sein Zuhause nicht verlässt. Evelyn Schulz ist seit 20 Jahren Professorin für Japanologie an der LMU München und hat sich mit möglichen Ursachen der Hikikomori und Lösungsansätzen, um sie in die Gesellschaft zurückzuholen, befasst.
  • Evelyn Schulz im Interview
    Das komplette Gespräch zum Anhören
iv1-hikikomori-japanologie-professorin-evelyn-schulz.jpg

Die Gründe der Hikikomori

Hikikomori ist ein soziales Phänomen, meistens betrifft es jüngere Menschen, vor allem Männer bis 39 Jahre. Aus unterschiedlichen Gründen ziehen sie sich aus der Gesellschaft zurück und bleiben im Haus ihrer Eltern wohnen, denn ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können sie nicht. Japanologie-Professorin Evelyn Schulz kennt einige der Beweggründe, Hikikomori zu werden.
"Was auffällig ist: Es sind Menschen, die mit dem Schulsystem nicht klarkommen, […] die einfach Versagensängste haben, […] die vielleicht auch traumatische Erfahrungen hatten. Es sind auch Menschen, die psychische Störungen haben, die aber nicht diagnostiziert sind." – Evelyn Schulz

Laut Evelyn Schulz gibt es eine Fülle an Studien, die die Gründe der Hikikomori analysieren.

Einige kommen zu dem Schluss, dass die enge Bindung an die Familie ausschlaggebend ist und die Menschen erst sehr spät in die Unabhängigkeit entlassen werden. Andere wiederum nennen die große Erwartungshaltung als Faktor. Generell sei der Druck auf junge Menschen in Japan enorm hoch. Weil es in Japan vergleichsweise wenig Drogenprobleme und auch eine kleinere Subkultur gibt, sagt Evelyn Schulz, sei eine Theorie, dass Hikikomori versuchen, eine eigene Subkultur in sich zu finden, um so zu rebellieren. Genauso unterschiedlich wie die Gründe sind allerdings auch die Ausprägungen der Hikikomori. Manche verlassen ihre Wohnungen tatsächlich nie, andere gehen nur nachts raus, um niemandem zu begegnen.

 

Toleranz der Gesellschaft?

Die japanische Gesellschaft geht sehr tolerant mit Hikikomori um, erzählt Evelyn Schulz. Dass es sie gibt, wird von vielen eben einfach so hingenommen und akzeptiert. "Man kann sowieso wenig machen", war lange das Mindset. Seit einigen Jahren gibt es allerdings vermehrt Hilfsangebote.
"Beispielsweise gibt es in großen Städten Beratungszentren, wo Eltern und Verwandte sich beraten lassen können. […] Es gibt so eine Art Tagespflege für Hikikomori, dort können sie hingehen und werden betreut. Also es gibt sehr unterschiedliche Ansätze, diese Menschen doch ein bisschen wieder in die Gesellschaft zurückzubringen." – Evelyn Schulz


Lockmittel Pokémon GO

Die Digitalisierung trägt außerdem dazu bei, dass Hikikomori nicht komplett den Anschluss zur restlichen Welt verlieren. Mittlerweile gibt es Avatare, die Menschen mit sozialen Ängsten den Kontakt mit anderen erleichtern. Generell sei die Digitalisierung eine gute Möglichkeit und Chance für Hikikomori und ihre Rückkehr aus der Isolation. Laut einer Studie hat zum Beispiel die App Pokémon GO dazu beigetragen, dass einige Hikikomori wieder nach draußen gingen - wenn auch nur zum Monster sammeln. 


Hikikomori außerhalb Japans?

Auch wenn es in den 70er-Jahren erstmals in Japan auftrat, gibt es auch in anderen Ländern Hikikomori. Evelyn Schulz erzählt von Studien, die Proband*innen aus Australien, USA, Spanien und Japan zusammenbringen und mit Fragebögen untersuchen, ob ähnliche Phänomene vorliegen.
"Wir kennen vermutlich alle jemanden, der zumindest Hikikomori-Tendenzen hat. Also auch Phasen im Leben hat, wo man merkt, mir ist das alles zu viel, da komm ich jetzt nicht damit zurecht und ich zieh mich mal zurück. Insgesamt glaube ich das es in jeder modernen Gesellschaft […] Menschen gibt, die Hikikomori-Tendenzen haben." – Evelyn Schulz




egoFM in deinem RSS-Feed

Ab sofort kannst du die neuesten Artikel auf egoFM.de über deinen RSS-Feed mitverfolgen. Einfach die folgenden URLs zu deinem Reader hinzufügen:

Unsere Musik-News

Hier erfährst du, welche neuen Songs und Alben wir dir ans Herz legen: https://egofm.de/rss/news

Neue Musiker*innen entdecken

Hier entdeckst du spannende neue Künstler*innen durch unsere Playlisten und Sendungen: https://egofm.de/rss/entdecken

Unsere Blog-Themen

Hier bleibst du auf dem Laufenden über unsere Themenwochen und News aus der Popkultur: https://egofm.de/rss/blog

Design ❤ Agentur zwetschke