Was ist Ableismus?

Was ist Ableismus?

Ein Guide für mehr Sichtbarkeit und Rücksichtnahme

Hier erfährst du, wie sich Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung äußert und was du tun kannst, um als nicht-behinderte Person ein*e Ally zu sein.


TW: Tod, Ableismus


Der Mord an vier Menschen mit Behinderung

Am 28. April 2021 sterben Martina W., Lucille H., Christian S. und Andreas K. - vier Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung in Potsdam, dem Oberlinhaus. Die Täterin: Ines R., die bereits seit 30 Jahren als Pflegerin in der Einrichtung arbeitet. Wegen des vierfachen Mordes und drei zusätzlichen Mordversuchen drohen Ines R. 15 Jahre Gefängnis. Die Berichterstattung über die Tat war des Öfteren nicht nur taktlos, sondern hochgradig ableistisch. So war beispielsweise von "Erlösung" die Rede - ganz so, als ob Ines R. ihren Opfern einen Gefallen getan hätte - was zeigt, wie wichtig es ist, über Ableismus aufzuklären.

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von Luisa L'Audace (sie/ihr) (@luisalaudace)


Was ist Ableismus?

Ableismus kommt aus dem Englischen: able = fähig und Ableismus bedeutet auf Deutsch so viel wie Behindertenfeindlichkeit. Weil Ableismus auf der selbstverständlichen Annahme eines physisch und psychisch funktionierenden Körpers beruht, führt er zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken.
Dass unsere Gesellschaft ableistisch ist, sieht man zum Beispiel an mangelnder Barrierefreiheit, einer bestimmten Sprache oder der Herabwürdigung von Personen, die aus körperlichen oder kognitiven Gründen nicht den Erwartungen einer (scheinbar) nicht-behinderten Leistungsgesellschaft gerecht werden können (zum Beispiel 40 Stunden pro Woche zu arbeiten).

Ableismus ist also strukturell

Menschen mit Behinderung haben nicht dieselben Chancen an Wissen und Macht zu gelangen. Einerseits, weil viele Bildungseinrichtungen nicht barrierefrei oder Lehrpersonal nicht geschult ist, andererseits auch wegen internalisierter Behindertenfeindlichkeit, also verinnerlichten Vorurteilen gegenüber behinderten Menschen, was sich durch Gedanken wie "Der*die kann ja eh nicht so viel leisten" manifestiert.

Ableismus tötet - gerade in Krisen

Diese ableistischen Strukturen und verinnerlichten Vorurteile sind nicht nur diskriminierend, sie sind auch wahnsinnig gefährlich und können tödlich für Betroffene sein. Dies zeigt nicht nur der oben beschriebene Mord an den vier Menschen, sondern äußert sich gerade in Krisen.

Ein Beispiel dafür ist der Tod von zwölf Bewohner*innen einer Einrichtung für behinderte Menschen in Sinzig (Kreis Ahrweiler) während der Flutkatastrophe 2021: Obwohl Bewohner*innen im Kreis Ahrweiler schon Mittwochvormittag vor der kommenden, möglicherweise sehr plötzlichen Flut gewarnt und dazu angehalten wurden, sich möglichst nicht mehr im Erdgeschoss oder Kellern aufzuhalten, wurden die Heimbewohner*innen trotzdem in der Nacht von Donnerstag auf Freitag im Schlaf von der Flutwelle überrascht - im Erdgeschoss. Trotz der angekündigten Katastrophe war lediglich eine (!) Nachtwache im Nebenhaus zum Dienst eingeteilt. Das war grob fahrlässig, denn bei der Geschwindigkeit, in der das Erdgeschoss voll mit Wasser lief, war diese machtlos. Schuld daran ist einerseits das Pflegesystem, das die eigenen Pflichten nicht wahrnimmt und Bedürfnisse behinderter Menschen ignoriert. Ein weiteres Problem sind lückenhafte Warnsysteme, die Menschen mit Behinderung oft nicht mit einbeziehen.


Auch im Krieg werden Menschen mit Behinderung vergessen

Gerade zu Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen Ukraine haben sich sicherlich auch hier viele Menschen Gedanken gemacht, wie sie in der Situation reagieren, was sie packen, wie sie fliehen würden. Nicht behinderten Menschen muss dabei bewusst sein: Das ist schon ziemlich privilegiert. Immerhin muss man sich nicht noch zusätzliche Gedanken darum machen, beispielsweise mit einem Rollstuhl oder Gehhilfen über eine zerbombte Infrastruktur fliehen zu müssen oder wie man dafür sorgt, dass lebenswichtige Apparate in einem Bunker weiterhin funktionieren oder wie die medizinische Versorgung gewährleistet werden kann. Deswegen ist es wichtig, auch Organisationen zu unterstützen, die sich genau darauf fokussieren. Ein paar Kampagnen, die aktuell in Ukraine tätig sind, findest du hier.



Was ist gegen Ableismus und für mehr Inklusion zu tun?

Weil Behindertenfeindlichkeit internalisiert und vielen Menschen gar nicht bewusst ist, müssen nicht-behinderte Menschen erstmal das eigene Verhalten reflektieren um unbewussten Ableismus und mögliche Barrieren zu erkennen. Ein paar Vorschläge wären folgende Punkte...

Für mehr Barrierefreiheit einsetzen

Dazu sei erstmal gesagt: Behinderungen sind vielfältig, einige davon sind sogar unsichtbar. Wer bei "Mensch mit Behinderung" also prompt an eine Person im Rollstuhl denkt, ignoriert damit per se die meisten anderen Behinderungen. Die Liste von Schwerbehinderungen geht von Autoimmunerkrankungen, über Down-Syndrom, Epilepsie oder Psychosen bis hin zum Tinnitus. Dementsprechend vielzählig und unterschiedlich sind die Hürden oder Gefahrensituationen, mit denen behinderte Menschen im Alltag konfrontiert werden. Sei es eine nicht existente Rollstuhlrampe, eine unnötig schwierige, mit Fremdwörtern versehene Sprache, nicht mehr oder weniger sofort zugängliche öffentliche Toiletten oder mangelndes Wissen über die Basics der Gebärdensprache. Allein über das Thema Barrierefreiheit im Netz haben wir hier einen ausführlichen Artikel.

Es ist nicht die Aufgabe von behinderten Menschen, für den Abbau von Barrieren zu sorgen - es ist die von nicht-behinderten Menschen, Räume so inklusiv zu gestalten, dass niemand ausgeschlossen wird. Sei es also eine Anpassung des eigenen Verhaltens, das Ansprechen oder Abbauen von Hürden oder auch nur das Unterschreiben und Teilen von Petitionen: ein bisschen was geht immer.

Ableismus erkennen - zum Beispiel im Umweltschutz

Über Verbote von Wegwerfplastik in der Gastro freut man sich vielleicht erstmal riesig, dabei vergisst man aber leider, dass manche Menschen mit Behinderung zum Beispiel auf Strohhalme aus Plastik angewiesen sind und aus Gründen der Flexibilität oder Verletzungsgefahr keine Alternativen aus Edelstahl oder Glas verwenden können. Über dieses Problem haben wir dort einen ausführlicheren Text.

Behindertenfeindliche Sprache vermeiden

Dass "behindert" kein Schimpfwort ist, sollten wir mittlerweile alle wissen und hoffentlich auch schon verinnerlicht haben. Etwas unbekannter ist allerdings die Tatsache, dass auch Ausdrücke wie "dumm", "doof", "Idiot" oder "Trottel" behindertenfeindlich sind. Per Definition beziehen sich diese Wörter nämlich auf Personen mit einem verminderten Intellekt - für den sie selbst nichts können. Das benutzen dieser Wörter zum Beispiel in Bezug auf Nazis ist verletzend gegenüber Menschen, die tatsächlich dumm sind. Denn nur weil man dumm ist, ist man kein Nazi. Man ist Nazi, weil man scheiße ist.
Überhaupt: Wer sowas wie "blöd" oder "doof" sagt, meint eigentlich etwas anderes. Engstirnig, ignorant, rücksichtlos oder einfach beschissen - zum Beispiel. Wenn du in Zukunft etwas oder jemanden beleidigen willst, kannst du also versuchen, dich präziser auszudrücken. Eine größere Diskussion über die Benutzung des Wortes "dumm" wurde im November 2021 durch Sibylle Berg losgetreten. Hier kannst du dich über die Problematik noch mal informieren.
Dabei ist uns bewusst, dass all diese Ausdrücke so sehr in unserem Sprachgebrauch verankert sind, dass es wahrscheinlich nicht hinhaut, sie von hier auf jetzt einfach nicht mehr zu verwenden. Du bist hiermit allerdings darauf sensibilisiert und kannst den Gebrauch nach und nach reduzieren. Dabei musst du die Wörter auch gar nicht ersatzlos streichen - wie wäre es mit einer kleinen Weiterbildung über Schimpfwörter? Wir können Fatzke, "du präpotente Watschnfresse" oder das gute alte "du kleines Stück Scheiße" empfehlen.

Darüber hinaus gibt es die Diskussion, ob Identity First ("behinderte Person") oder Person First Language ("Mensch mit Behinderung") respektvoller sei. Die Meinung Betroffener geht allerdings sehr auseinander und Präferenzen sind damit eher individuell. Wobei sich allerdings alle einig sind: Die Reduzierung und Verallgemeinerung auf "die Behinderten" geht gar nicht.

Menschen mit Behinderung sind kein "Inspiration Porn"

Nicht-behinderte Menschen halten es oft für bestärkend, behinderte Menschen als "inspirierend" zu bezeichnen, wenn etwas geleistet wird, was ihnen aufgrund internalisiertem Ableismus nicht zugetraut wird. Zum Beispiel wenn eine Person im Rollstuhl regelmäßig ins Fitnesscenter geht oder ein Mensch mit kognitiver Behinderung einen Uniabschluss macht. Das ist vielleicht gut gemeint, jedoch genauso ableistisch, weil es herablassend ist und gerne auch verwendet wird, um die eigene Motivation anzukurbeln (das äußert sich dann im Denken à la "Wenn der behinderte Mensch das schafft, muss ich dass doch auch schaffen"). 

Nicht einfach nach Gutdünken "helfen"

Was wir dringend in unsere Köpfe reinbekommen müssen: Menschen mit Schwerbehinderung sind nicht durchweg auf die Hilfe von nicht-behinderten Personen angewiesen. Einer blinden Person einfach über die Straße zu helfen oder einen Menschen in Rollstuhl einfach am Lenker packen und über Bordsteine hieven ist übergriffig und herablassend. Wenn du merkst, dass eine Person offensichtlich mit einer Hürde zu kämpfen hat, kannst du trotzdem deine Hilfe anbieten - ohne dass du dann beleidigt bist, wenn sie abgelehnt wird (ja, es soll so Menschen geben, die dann was von "Undankbarkeit" labern...).

Kindern den richtigen Umgang mit behinderten Menschen beibringen

Natürlich gibt es keine allgemein gültige Anleitung, wie du als Elternteil am besten reagierst, wenn das Kind auf eine Person mit Behinderung zeigt und dich zum Beispiel fragt, warum sie im Rollstuhl sitzt. Raul Krauthausen hat diese Thematik in einem Infopost aufgegriffen. Er fände es gut, wenn Eltern nicht mit Unbehagen oder gar Ärger über das Kind reagieren und dann nicht sowas wie "Da zeigt man nicht hin" sagen.

"Werde nicht böse, wenn sie neugierig sind. Durch Angst, Scham und Verlegenheit kreieren wir Barrieren in den Köpfen der Kinder." - Raul Krauthausen

Außerdem wäre es ihm wichtig, Menschen mit Behinderung nicht als tragisches Schicksal darzustellen, sondern viel mehr zu betonen, dass anders sein nichts schlechtes sei.

"Anstatt alles als traurige Geschichte darzustellen, gefallen mir Sätze wie: 'Aber es ist so in Ordnung. Die Welt ist voller Menschen, die anders sind.'" - Raul Krauthausen

Eine für Kinder sehr verständliche Art und Weise, angeborene Behinderungen zu erklären, kann auch sein: "Diese Person sieht anders aus als du, aus demselben Grund aus dem du blonde Haare und andere Menschen braune Haare haben".

Toll wären natürlich viel mehr inklusive Kindergärten und Schulen und dafür geschulte Erzieher*innen, damit nicht-behinderte und behinderte Kinder ganz selbstverständlich Kontakt haben und einen guten Umgang miteinander lernen.

Auf betroffene Menschen hören

Eigentlich die einfachste Regel, die überhaupt für alle marginalisierte Menschen gilt: Wenn eine betroffene Personengruppe sagt, dass sie bestimmte Wörter oder bestimmtes Verhalten verletzt, muss das ernst genommen werden.

Mehr Vielfalt im Social Media Feed

Natürlich ist es voll okay, wenn du keine Lust auf Social Media generell hast oder dich zum Beispiel aus Schutz deiner psychischen Gesundheit nicht mit bestimmten, ernsteren Themen auseinandersetzen kannst. Solltest du aber im Stande sein und Interesse daran haben, dich in Punkto Ableismus und Inklusion weiterzubilden, empfehlen wir dringend, deinen Feed dahingehend zu erweitern. Wir haben hier eine kleine Übersicht an Inkluencer*innen (=Kombination der Wörter "Influencer*in" und "Inklusion") auf Instagram, zum Beispiel Ninia La Grande oder Tabea und Marian von @notjustdown. Wenn du noch andere Vorschläge hast, gerne her damit!

Aktivist*innen mit Behinderung medial supporten

Es ist gut, sich als nicht-behinderte Person für das Thema stark zu machen. Allerdings musst du dabei immer beachten: Es ist nicht deine Time to shine und keine Möglichkeit, selbst an Likes und Follower*innen zu kommen. Als Ally supportest du am besten die Botschaften von betroffenen Aktivist*innen, indem du diese via Social Media teilst.

Auf ableistisches Verhalten aufmerksam machen

Zu guter Letzt noch etwas, was selbstverständlich sein sollte: Um gegen internalisierte Vorurteile und offene Behindertenfeindlichkeit in der Gesellschaft zu kämpfen ist es unglaublich wichtig, Mitmenschen in diesen Fällen auf Fehlverhalten anzusprechen - gerade, wenn es unbewusst ist.



Behindert sein, heißt in den meisten Fällen behindert werden

Wenn Empathie und Rücksichtnahme also nicht genug zählen, um das eigene Verhalten zu reflektieren und anzupassen, motiviert vielleicht die Tatsache zu mehr Rücksichtnahme und Aktivismus, dass weniger Menschen mit einer Schwerbehinderung geboren werden, als dass Menschen im Laufe ihres Lebens - zum Beispiel durch Unfälle oder Erkrankungen - schwerbehindert werden. Das zeigen auch die Zahlen des statistischen Bundesamtes: Die Quote einer Schwerbehinderung unter einem Alter von vier Jahren beträgt 0,5 Prozent (2019 gab es also 17.008 unter vier-Jährige mit einer Schwerbehinderung). Ab dem Alter von 55 macht diese Quote einen großen Sprung: 55 bis 60 haben eine Schwerbehinderten-Quote von 11,3 %, bei Menschen über 65 sind es mit 4.517.672 schwerbehinderten Personen schon 25,3 %.

Letztlich heißt das also: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Laufe unseres Leben selbst betroffen sind - sei es aktiv oder passiv durch nahestehende Menschen - ist relativ hoch.



Abschließend sei noch gesagt: Es geht hier nicht darum, den Zeigefinger zu schwingen

Mit diesem Text hier wollen wir niemanden ankacken, alles falsch zu machen und ein schlechter Mensch zu sein. Es geht uns darum, eigene Learnings in Anbetracht von Ableismus weiterzugeben. Wir haben in der Vergangenheit selbst Fehler gemacht und werden sicherlich auch noch einige ungewollt machen. Als Gesellschaft sollten wir dazu fähig sein, konstruktive Kritik anzunehmen - gerade wenn diese von Betroffenen kommt. Zuhören, lernen und neues Wissen weitergeben. Sollte also auch in diesem Text etwas Unsensibles stehen, würden wir das gerne erfahren. Du kannst uns dazu immer gerne eine Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! schicken.

Design ❤ Agentur zwetschke