Während London Grammar auf der neuen Platten alte tradierte Rollenbilder abreißen, verfolgen sie dennoch ihre eigene Tradition, alle vier Jahre ein neues Album zu veröffentlichen. Genau unser Humor.
Die Erfolgsgeschichte mit fast nur zwei Kapiteln
Beinahe hätten wir nie wieder etwas von der Band gehört: London Grammar erlebte schon mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums If You Wait (2013) einen fulminanten Hype der Alternative-Musikszene, der auch noch das zweite Werk Truth Is a Beautiful Thing (2017) überdauerte und einfach nicht abbrechen wollte. Doch mit dem Ruhm kommt harte Arbeit - touren, promoten, weiter komponieren, promoten, touren, touren, touren - und so kommt mit harter Arbeit auch irgendwann die Ermüdung. Frontfrau Hannah Reid erzählt heute in Interviews, sie sei vor drei Jahren eigentlich am Punkt gewesen, ihre Musikerinnenkarriere an den Nagel zu hängen. Die Sängerin und Songwriterin fühlte sich ausgewrungen, erschöpft und aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert. Hinzu kam dann noch eine schwere Erkrankung - der Entschluss stand also mehr oder weniger fest. Dann wurde sie doch noch mal von der Muse geküsst - der Song "America" fließt aus der Seele über die Fingerspitzen auf ein Blatt Papier. So erzählt Hannah Reid (ausgerechnet) GQ:
"[It's about] my journey of letting go of the past and learning how to write music again following a difficult time with my health. I use the idea of the American Dream to wave goodbye to the things that I didn't need anymore."
London Grammar - Californian Soil
Der Lieblingstonträger der Woche
Das dritte Kapitel: Californian Soil
"America" war also der Neustart, aus dem sich nach drei Jahren Rumtüfteln das Album Californian Soil entwickelt. Und damit beginnt eben wieder alles von vorne: der Hype, die Interviews, das Arbeiten. Nur das Touren dürfte erstmal nicht ganz so hart ausfallen und überhaupt hat sich die Band geschworen, diesmal die Obrigkeit ihres Terminkalenders zu sein. Dafür ist der Einschlag der Botschaft besonders groß. Californian Soil prangert nämlich Missstände an. Misogynie, also Frauenhass, zum Beispiel. Nicht nur in der Musikindustrie in Bezug auf Chancengleichheit und Respekt, sondern auch auf ganz individueller Ebene geht es auch um toxische Beziehungen ("Lose Your Head") und psychische Manipulation, wie etwa Gaslighting ("Lord It's A Feeling").
"Obviously a lot of women have experienced a lot worse than me and I want to acknowledge that [...] I just experienced a lot of emotional - just feeling very, very undermined by certain characters - you know. A lot of toxic masculinity and I definitely had to prove myself as a musician in a way that I felt like the boys never had to. [...] It's like a thousand little moments but that 1000 little moments sort of added up to a quite difficult picture."
Dementsprechend wichtig ist es, dass eine große Band wie London Grammar diese Themen anspricht. Und zwar auf eine Weise, die zumindest Fans und sonstige Anhänger*innen der Band nicht ausweichen können: Über ihre Lyrics. Statt übers Megafon wird hier Gesellschaftskunde also direkt über Kopfhörer ins Hirn übertragen. Oder auch über Lautsprecher, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Nur so kann sich mit der Zeit etwas verändern und ausbeuterische, diskriminierende Machtstrukturen und Gedankenmuster aufgebrochen werden. Wenn alle zuhören - und dann aber auch infolgedessen handeln. Die eigenen Verhaltensmuster reflektieren. Das eigene Denken unter die Lupe nehmen. Und Privilegien hinterfragen.
Nun also: Der Heldinnenepos
Einen absoluten Gänsehautmoment bekommen die Hörer*innen gleich zu Beginn des Albums - welches Spiel wird hier mit uns gespielt? Die Arien von Hannah Reid in Kombination mit weitschweifenden Streichern katapultiert uns in das Mindset einer epischen Dichtung. Gleich wird klar: Hier passiert Großes. Das Gefühl hält sich auch auf den folgenden Songs: Hannah Reids unglaubliche Stimme trägt die Hörenden die kompletten zwölf Songs. Gebettet auf Dot Majors Elektronik und Dan Rothmans Gitarrenkunst ergeben sich hier große Klangwelten wie eh und je in der Bandgeschichte. Songs wie "Lose Your Head" wirken durch repetitive Lyrics obendrein noch wie Mantras. Episch durch und durch.
Ein weiteres Highlight des Albums ist die liebevolle Power-Ballade "Baby It's You". Angetrieben von Hannah Reids Gesang und nach verrosteten Mühlenblättern klingenden Synthesizern scheint das der perfekte Soundtrack zu sein, um im Hochherbst auf einem Pferd im Galopp über güldene Felder zu reiten.
Die 90er lassen natürlich auch von sich hören
Kann man in diesen ganz bestimmten Zeiten überhaupt ein musikalisches Werk erschaffen, ohne den 90ern zu huldigen? Ob nun beispielsweise die kurz aufleuchtenden Synths und Trap Elemente im Hintergrund von "Lord It's a Feeling", die flächigen Akkorde, die sich übers ganze Album ziehen oder die Aufbauten der Tracks, die zaghaft in kleinen Melodien beginnen, um nach in nach in voluminösen Soundmischungen zu explodieren. Californian Soil bietet massive musikalische Assoziationen mit anderen Künstler*innen - ob Austra, Enya, Florence + The Machine, AlunaGeorge oder Massive Attack: London Grammar scheinen die besten Einflüsse der 90er bis 10er Jahre zu nehmen, um es zu einem ganz eigenen Kunstwerk zusammenzusetzen.
London Grammar überzeugen auf Californian Soil nicht nur wie eh und je mit großen Klangwelten, sondern auch einer starken Botschaft.
Wer Lust auf ein bisschen moderne 90s mit nicht ganz nichtigen Songtexten hat, kann das dritte Album der Londoner problemlos rauf und runter hören. Und dann natürlich auch allen Freund*innen davon erzählen! So eine Message verbreitet sich natürlich nicht von ganz alleine.
Tracklist: London Grammar - Californian Soil
01 Intro 02 Californian Soil 03 Missing 04 Lose Your Head 05 Lord It's A Feeling 06 How Does It Feel 07 Baby It's You 08 Call Your Friends 09 All My Love 10 Talking 11 I Need The Night 12 America
Californian Soil von London Grammar wurde am 16. April 2021 via Island (Universal Music) veröffentlicht.
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