St. Vincent: All Born Screaming

St. Vincent: All Born Screaming

Das Album der Woche

Von  Vitus Aumann
Zwischen den Stühlen zu Sitzen ist scheinbar gar nicht so unbequem, wenn man eh alles kann.

Was haben Sufjan Stevens und Taylor Swift gemeinsam?

Wahrscheinlich so einiges, wenn man länger sucht. Aber vor allem treffen sie bei einer Person aufeinander: Annie Clark. Die Künstlerin, die man heute als St. Vincent kennt, sorgte damals in der Band von Sufjan Stevens mit revolutionär experimentellem Gitarrenspiel für Aufsehen. 13 Jahre später schrieb sie zusammen mit Taylor Swift "Cruel Summer" den vielleicht größten Ohrwurm ihrer Karriere – und das will was heißen. St. Vincent hat also eigentlich eh schon gezeigt, dass sie zwischen stadiontauglichem Pop und virtuosem Musiknerdsound offensichtlich alles hinbekommt.

MIt All Born Screaming stellt sie aber ganz einfach trotzdem nochmal klar, was ihre Musik ausmacht: Sie ist vielseitig, emotional – und unglaublich großartig.

Karriere in Genresprüngen

St. Vincents Karriere läuft ja eh schon ein bisschen schlangenlinienförmig: Masseduction war mit seinem knallharten Synthiepop ein riesengroßer Erfolg. Daddy’s Home ging danach aber gleich mal in eine komplett andere Richtung, dort wurden sanft psychedelische Klangflächen erkundet. Genrewechsel ist man also eh schon gewohnt, aber All Born Screaming setzt das noch einmal auf ein neues Level: Hier wird nicht zwischen Alben gesprungen, hier passiert es manchmal mitten im Song. St. Vincent erleichtert aber gerne die Umgewöhnung. "Hell is Near" umhüllt das Trommelfell noch mit Trip Hop Basslauf und psychedelischer Gitarre, man fühlt sich fast wieder wie bei Daddy’s Home. Und nicht nur da: "Violent Times" greift die 70s Ästhetik perfekt auf und wäre in einer faireren Welt der beste James Bond-Titeltrack seit "Skyfall" (sorry Radiohead). Aber dazwischen werden die Töne eben rauer. "Reckless" führt mit düsteren Klangflächen noch knapp drei Minuten auf die falsche Fährte, bis dann plötzlich ein verzerrtes Synthiegewitter durch die Kopfhörer losbricht. Für "Broken Man" rückt sie dann sogar ihre eigene Stimme hinter die gigantisch groß aufklingende Gitarre. Man kann sich bei wirklich keinem Song sicher sein, in welche Richtung er ausbrechen wird. Natürlich muss man sich ein bisschen umgewöhnen:

Ein in sich geschlossenes und fokussiertes Album ist All Born Screaming natürlich nicht – aber bei einem Album, dass sich um Schmerz, Wut und Verlust dreht, macht die chaotische Energie doch so viel Sinn. Mehr dazu erfährst du hier im Interview mit St. Vincent.

Alles kommt zusammen

Auf Daddy’s Home klang Annie Clark so als wäre sie auf der Suche nach ihrem wahren Ich – auf All Born Screaming klingt sie so, als wäre sie völlig fein damit, zwischen mehreren Identitäten hin- und herzuspringen. Das zeigt sich auch bei den Partner*innen und Einflüssen, die zu All Born Screaming beigetragen haben. Da gibt es auf der einen Seite "Flea", eine Ode an die viel zu jung gestorbene, experimentelle Produzentin SOPHIE und die Indiesongwriterin Cate Le Bon, die den Titeltrack mitsingen darf. Auf der anderen Seite sitzt hin und wieder einfach Dave Grohl am Schlagzeug – den erstens jede*r kennt und der zweitens bei seiner aktuellen Band eher auf Tradition setzt anstatt auf Experimente. Bei All Born Screaming passt aber eben beides zusammen und es ist schon ein ziemliches Kunststück, wie Annie Clark das wieder hinbekommen hat.

St. Vincent kann ebenso gut wie alles – und es klingt so schön zu hören, wie sie damit angibt.



Tracklist: St. Vincent - All Born Screaming

  1. Hell Is Near
  2. Reckless
  3. Broken Man
  4. Flea
  5. Big Time Nothing
  6. Violent Times
  7. The Power's Out
  8. Sweetest Fruit
  9. So Many Planets
  10. All Born Screaming (feat. Cate Le Bon)
All Born Screaming von St. Vincent wurde am 26. April 2024 via Because veröffentlicht.

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